
ACHTSAMKEIT ALS WEG ZUM ERFOLG
Oder ein Missbrauch mit unangenehmen Folgen?!
Achtsamkeit ist nicht nur in der Gesellschaft „in“, auch im Wirtschaftskontext wird das Thema immer häufiger diskutiert – wie viele von Ihnen sicherlich merken. Der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht ebenfalls davon, dass Achtsamkeit in den nächsten 20-30 Jahren in allen Lebensbereichen in der Gesellschaft und ebenso in der Wirtschaft prägend sein wird.[1]
Achtsamkeit reduziert nachweislich Stress, macht resilient und fördert die Empathie, die im 21. Jhdt. von Führungskräften immer ausdrücklicher gefordert wird.
Die größte Ausbreitung der Achtsamkeit geht auf das von Jon Kabat-Zinn aufgebaute Programm „Mindfulness Based Stressreduction“ (MBSR) zurück. Er hat den Stein ins Rollen gebracht, indem er aus der buddhistischen Achtsamkeitspraxis die grundlegenden Techniken so herausgeschält hat, dass diese für jeden Menschen handhabbar wurden, ohne in eine ethische oder spirituelle Grundsatzdiskussion hineinzurutschen.
Achtsamkeit heißt: Zur Besinnung kommen, sinnlich werden, die Sinnesorgane mit dem Bewusstsein anzusteuern und was dort hineinkommt, in das Bewusstsein zu nehmen. [2]
Darüber hinaus hat Zinn das MBSR-Programm sukzessive durch eine fundierte wissenschaftliche Begleitforschung zu untermauern gesucht.[3] Die Achtsamkeitsbewegung hat eine Modewelle losgetreten, ähnlich wie vor 20 Jahren Wellness. Die ursprüngliche Definition von Wellness, die ganzheitliche Betrachtung und die miteinander verwobene Beziehung von Geist, Körper und Seele, ist heute jedoch in der Art kaum noch zu spüren. So kommt es, dass für ein steigendes Wellnessgefühl es scheinbar genügt, ein Wellness-Wasser zu trinken und Wellness-Socken zu tragen. So gesehen wird das, was Wellness ursprünglich zu bewirken versuchte, missbräulich verwendet.[4]
So stelle ich mir, in Anlehnung an andere, die Fragen:
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Wird der Trend der Achtsamkeit nur dahingehend gefördert, die Selbstoptimierung noch stärker anzuregen, die eigene Performance noch eindrucksvoller zu verbessern, und den Egoismus noch mehr zu befriedigen?
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Besteht die Gefahr, dass der Trend der Achtsamkeit – ähnlich wie der Wellnesstrend – dazu missbraucht wird, einfach nur Umsätze zu steigern und Leistungen zu forcieren, ohne die Sinnhaftigkeit und die Folgen eines Turbo-Kapitalismus auf das Leben von Mensch und Natur in Frage zu stellen?
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Wie kann der ursprüngliche Antrieb der Achtsamkeit überleben, dass Achtsamkeit ähnlich wie Wellness dazu dient, den persönlichen Reifungsprozess in Verbindung mit einem nachhaltig ausgerichteten Verantwortungsbewusstsein zu begleiten?
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Bevor ich mich dem Achtsamkeitsboom kritisch annähere, möchte ich sagen, dass ich wie andere auch diesen Trend zuerst einmal erfreulich begrüße. Achtsamkeit ist meiner Erfahrung nach ein sehr guter Türöffner, um Stress zu reduzieren, gelassener und damit auch leistungsfähiger, wie auch konzentrierter zu agieren, und die körperliche wie auch emotionale Resilienz zu stärken.
Achtsamkeit als Leistungsantreiber oder weiser Ratgeber?
Wenn durch das Achtsamkeitstraining nicht nur die Selbstoptimierung im Fokus steht, sondern auch das „Du“, die Eingebundenheit und Unzertrennlichkeit von einem selbst mit anderen Menschen und der Natur zu begreifen versucht wird, dann kann ich Achtsamkeit aus besten Wissen und Gewissen empfehlen. Doch ich selbst weiß aus eigener Erfahrung, wie leicht man das Du, die ganzheitliche Betrachtung ohne ethisches Grundgerüst und ohne persönliche, erfahrende Begleitung in der Praxis aus den Augen verliert.
Achtsamkeit heißt, die Egozentrik des alltäglichen Ich-Bewusstseins zu überwinden, indem die egoistischen, emotionalen Antreiber wahrgenommen werden. [5]
Deshalb möchte ich niemanden verurteilen, der die Achtsamkeit vielleicht in einer missbräuchlichen Weise nutzt. Die im Netz angebotenen Meditations-Apps suggerieren das Bild, dass Achtsamkeitspraxis ganz einfach so mit Hilfe einer einfachen App in den Alltag integriert werden kann.[6] Bis zu einem gewissen Grad stimmt das. Es war zum einen gut, dass Jon Kabat-Zin die Achtsamkeitspraxis aus dem spirituellen Rahmen gelöst hat. Hätte er es nicht getan, so hätte die Achtsamkeitspraxis vermutlich kaum eine so weitreichende Anerkennung erfahren. Daran ist nichts verwerflich.
Doch ich nehme auch wahr, dass etwas fehlt. Dieser fehlende Teil ist mir, wenn ich ehrlich bin, erst durch meine Verbindung von Achtsamkeit und Kampfkunst so richtig bewusst geworden. Im Aikido-Training, wenn mir ein/e PartnerIn (Gegner) gegenübersteht, wird mir bewusst, wie Achtsamkeit in Verbindung mit dem Du wirkt. Was Achtsamkeit eigentlich heißt. Es bedeutet zu fühlen, geistig und körperlich zu verstehen, dass der Gewinn über einen anderen keinen Fortschritt bedeutet. Es geht nicht darum, besser zu sein, mächtiger zu sein, schneller zu sein, …
Es geht um das Wahrnehmen und Spüren, um die daraus entstehende Erkenntnis, woran man selbst und der andere gerade leidet, welche emotionalen Befindlichkeiten in einem selbst und beim anderen das Miteinander blockieren.
Wenn man das zu fühlen im Stande ist, dann wird aus dem Kampf ein verantwortungsbewusster Tanz. Dann öffnet sich das Feld der Kreativität und der verantwortungsbewussten, nachhaltig orientierten Ausrichtung für die Zukunft.
Es gibt keinen zweiten Planeten Erde
Bei dem Punkt, achtsames, verantwortungsbewusstes Handeln, denke ich an Philipp Blom, Historiker und Bestsellerautor. Er schreibt sehr eindrucksvoll über das Wirken der Menschen auf dem Planeten Erde. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Was auf dem Spiel steht“ fragt er sich sehr eindringlich, wann die Menschen endlich bereit sind bewusst wahrzunehmen, was sie mit dem Leben auf ihrer Erde tun? Seinem Wissen nach steht der Mensch vor radikalen Umbrüchen. Klimawandel, Überbevölkerung sowie Raubbau an der Natur zerstören in einem kaum vorstellbaren Tempo den Lebensraum und das teilweise friedvolle Miteinander auf der Erde.[7]
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Was hilft ein aktuelles Rekordwachstum, wenn in 30-50ig Jahren der Klimawandel, eine Folge vom Raubbau an der Natur, gespeist durch den Antrieb der Wirtschaft, dramatische Nachwehen für alle Menschen hat – ausnahmslos für alle? Jedes Unternehmen, jede Führungskraft, jede/r MitarbeiterIn wird betroffen sein.
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Was hilft ein gewinnträchtiges Wirtschaftsabkommen mit einzelnen afrikanischen Staaten bzw. mit einzelnen afrikanischen Clans, wenn damit in Folge Millionen AfrikanerInnen ihre Lebensgrundlage, die ohnehin mühsam ist, gänzlich verlieren? Ihr Leid wird immer handfester an die Türen Europas klopfen.
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Das sind nur 2 unangenehme Fragen. Es gibt noch weit mehr, die ich, wenn ich ehrlich bin, auch gerne verdränge. Die Gegenwart ist noch ganz gut. Die Zukunft wird es nicht mehr sein, so die klare Aussage von Blom. Deshalb negieren wir die Zukunft. Mag sein, dass ich hier ein wenig Schwarz male. Blom hat sich gleich zu Beginn in seinem Buch selbst zu ermuntern versucht, nicht so pessimistisch zu denken. Doch er ist aus seinem ganzen Wissen heraus zu dem Schluss gekommen, dass die Menschen anscheinend nicht bereit sind umzudenken.[8]
Ich persönlich hoffe, dass Blom mit seiner Hypothese nicht Recht behält. Ich wünsche mir, dass die Achtsamkeit im tiefgründigen Sinn als gesellschaftliche Bewegung wirksam wird. Dann ist es möglich, die Probleme der Welt gemeinsam zu lösen. Ich mag jetzt nicht pathetisch klingen. Ich versuche das Treiben der Wirtschaft faktisch neutral zu betrachten. Doch die Zukunftsprognosen, selbst jene von WirtschaftswissenschaftlerInnen, rühren und rütteln mich. Das lässt mich einfach nicht kalt. Mag sein, dass manche von Ihnen mich jetzt zu rührselig halten. Sie haben vielleicht andere Erfahrungen und Einsichten. Das ist gut so, und gemeinsam aus unterschiedlichen Perspektiven heraus entstehen weitere neue Einsichten. Das ist ebenfalls Achtsamkeit.
Achtsamkeit als Zukunftschance
So wie ich versucht habe, mir das Feld der Achtsamkeit zu erschließen, so verstehe ich Achtsamkeit als Türöffner, die eigenen inneren Dämonen besser kennen und führen zu lernen. Es sind diese inneren Dämonen, die ein Umdenken und neues Handeln verwehren.
Die inneren Dämonen wie Neid, Gier, Hass, Zweifel, Widerwillen, Trägheit, u.a. verzerren den klaren Blick auf das Leben. Diese Dämonen überreden, Dinge zu tun, die eigentlich einem selbst und anderen nicht gut tun.
Die Achtsamkeitspraxis hilft, diese Dämonen aufzuspüren und respektvoll in Schranken zu weisen. Genau genommen steckt hinter jedem Dämon Angst. Das ist meine Einsicht und Empfindung. Achtsamkeit hilft, die Angst liebevoll in den Arm zu nehmen, und den Dämonen zu zeigen, dass sie die Angst nicht mehr beschützen müssen. Die Angst selbst begründet sich darin, die tiefgründige Verbundenheit mit dem Leben verloren zu haben, die Kraft des Herzens nicht mehr zu spüren.
Achtsamkeit heißt zu verstehen, dass die eigene Befindlichkeit in Verbindung mit der Befindlichkeit der anderen gemeinsam agiert.[9] Ich lebe nicht getrennt von den anderen, sondern ich bin Du. Deine Gefühle wirken auf mich und umgekehrt. Wenn ich meine eigenen Gefühle nicht zu verstehen vermag, dann kann ich das noch weniger mit den Gefühlen der anderen, die aber auf mich wirken und mich beeinflussen.
Jeder, der die Achtsamkeitspraxis durchdringend als Weg der Selbsterkenntnis zu gehen versucht, wird jedoch andere Erfahrungen und Einsichten machen. Aber die meisten Praktizierenden werden vermutlich zustimmen, dass der Weg der Achtsamkeit nicht zur Effizienzsteigerung dient, sondern zur Steigerung der Menschlichkeit.[10] So gesehen ist die Herauslösung der Achtsamkeitspraxis aus dem spirituellen Rahmen ein wenig gefährlich. Damit geht eine elementare Einsicht verloren, die Verbundenheit mit der Schöpfung, der darin begründete Respekt vor der Natur, das verantwortungsbewusste gemeinsame Gestalten der Welt und der Gesellschaft.
Ich möchte in diesem Artikel keine ethischen Belehrungen abhalten. Das steht mir absolut nicht zu. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass ich selbst aus meiner Erfahrung heraus weiß, dass das Achtsamkeitstraining leicht missbräuchlich genutzt werden kann. Die Gefahr ist einfach sehr groß, diesen Missbrauch nicht zu merken. Das kann absolut niemandem zum Vorwurf gemacht werden. Der Weg der Erkenntnis ist kein leichter Weg, und sollte meiner Meinung nach nicht losgelöst von einem spirituellen oder ethischen Grundgerüst, nur mit entsprechend einsichtiger und erfahrenen Begleitung zur Wirkung kommen. Ich weiß auch, dass gerade in Zeiten der Säkularisierung ein spirituelles Grundgerüst als Wegweiser sicher nicht gerne gesehen wird. Ethische Werte verlieren jedoch auch an Bedeutung.
Wohlstand frisst Werte – wenn die Wächter der Werte schlafen. [11]
So gesehen braucht es zusätzliche Übungen bzw. Reflexionen, die die Einsicht ermöglichen, dass die Selbstbezogenheit und Selbstfokussierung keinen echten Erfolg bringt. Ich persönlich konnte mit Hilfe von Aikido die Achtsamkeitspraxis vertiefen, und den möglichen Missbrauch aufdecken, bevor dieser zu stark zum Wirken kam. Es gibt sicher auch noch andere Wege, solche, wo man selbst mit einem Du in ehrlicher, offener Weise konfrontiert wird. Das ist meiner Erfahrung nach notwendig, ansonsten belügt man sich wieder selbst in dem eigenen, scheinbaren achtsamen Fortschritt.
Ihr Günther Wagner
Literaturquellen:
[1] https://www.researchgate.net/publication/317097836_Mindfulness_im_Alltag_und_in_Organisationen. Am 2017-07-24 gelesen.
[2] https://www.researchgate.net/publication/317097836_Mindfulness_im_Alltag_und_in_Organisationen. Am 2017-07-24 gelesen.
[3] https://www.researchgate.net/publication/317097836_Mindfulness_im_Alltag_und_in_Organisationen. Am 2017-07-24 gelesen.
[4] https://www.researchgate.net/publication/317097836_Mindfulness_im_Alltag_und_in_Organisationen. Am 2017-07-24 gelesen.
[5] https://www.researchgate.net/publication/317097836_Mindfulness_im_Alltag_und_in_Organisationen. Am 2017-07-24 gelesen.
[6] https://utopia.de/achtsamkeit-5-empfehlenswerte-meditations-apps-57123/. Am 2017-07-25 gelesen.
[7] https://files.hanser.de/hanser/docs/20170710_21771145219-117_978-3-446-25664-4-Leseprobe.pdf. Am 2017-07-25 gelesen.
[8] https://files.hanser.de/hanser/docs/20170710_21771145219-117_978-3-446-25664-4-Leseprobe.pdf. Am 2017-07-25 gelesen.
[9] https://www.researchgate.net/publication/317097836_Mindfulness_im_Alltag_und_in_Organisationen. Am 2017-07-24 gelesen.
[10] https://blog-wagner-consulting.eu/unerwartete-revolution/.
[11] Höhler, Gertrud: Jenseits der Gier. Vom Luxus des Teilens. Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin: 2005.