Ki, Charisma und charakterlicher Integrität

Teil 3 aus dem Zyklus: „Wirksam Führen wie ein Samurai“

Was genau ist es, was charismatische Menschen so kraftvoll wirken lässt?

Den Samurai haftet oft ein Irrglaube an, dass sie nur blutrünstige Krieger gewesen sein. Sie waren aber auch eine Elite, die Tugenden entwickelte und pflegte, die sie zu hochgeachteten Vorbildern für die Gesellschaft machte. Mit Hingabe konzentrierten sie sich auf die jeweils vor ihnen liegende Aufgabe und entwickelten durch tägliches Üben ihre eigene Persönlichkeit.

So wie ein Samurai, gibt es Menschen, die wie ein Magnet die Blicke auf sich ziehen, sobald diese einen Raum betreten. Es gibt Menschen, die einen tief berühren, wenn man ihnen begegnet oder man sie reden hört. Es gibt Menschen, die Unglaubliches bewirken können, wie z.B. Martin Luther King, Mahatma Ghandi, Jesus, …

Diesen ist gemein, dass sie charismatisch auf die jeweilige Lebenssituation geantwortet haben, und die angestandenen notwendigen Veränderungen couragiert eingeleitet haben. Ihnen war gemein, dass sie in einer aufgewühlten, problembehafteten Zeit lebten und fühlten, dass Grenzen im Denken verschoben und neue Wege gegangen werden müssen.

Wo stehen wir heute? Stehen wir nicht wieder vor sehr großen Herausforderungen, die auf neue Lebenseinsichten warten, um gelöst werden zu können?

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  • Was genau ist es, was charismatische Menschen so kraftvoll wirken lässt?

  • Inwiefern hilft Charisma und Ki – Herausforderungen, Chaos und auch Niederlagen erfolgreich zu meistern?

  • Können und wollen Führungskräfte ihr Charisma bzw. Ki stärken, ohne Missbrauch zu betreiben?

Aktuell, jetzt in der Weihnachtszeit, werden wir ob wir wollen oder nicht, jedes Jahr aufs Neue mit dem Leben und Wirken von Jesus konfrontiert. Ein Leben, das umstritten ist und doch so besonders war, dass es über Jahrhunderte hinweg seine Spur hinterließ. Das kann in der Weise nur ein Mensch mit Charisma. Wer Jesus auch immer war, er muss eine besondere Ausstrahlung gehabt haben. Im Verständnis der Samurai war Jesus ein Kampfkünstler wie sie selbst.

Lt. Richard Wiseman, Professor an der Universität Hertfordshire, verfügen charismatische Menschen über 3 Eigenschaften: [1]

  1. Emotionen werden von ihnen sehr stark empfunden.

  2. Sie sind in der Lage, auch andere Menschen derart starke Gefühle erleben zu lassen.

  3. Und sie sind resistent gegenüber Einflüssen anderer charismatischer Menschen.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt, warum ich keine charismatische Führungspersönlichkeit aus der Wirtschaft genannt habe. Vielleicht war es mir noch nicht vergönnt, eine meinem Empfinden nach charismatische Führungspersönlichkeit kennenzulernen. Tut mir leid, ich will damit niemanden der Führungskräfte in ihrem Wirken herabsetzen. Ich sehe auch keine Schuld bzw. Unfähigkeit in den einzelnen Menschen, sondern das System, die Bildung, die Erziehung und Sozialisierung ist so aufgebaut, dass das charismatische Potential der Menschen dabei nicht gefördert, sondern vielmehr unterdrückt wird.

So gesehen ist es viel mehr ein Wunder, wenn man hier und da noch charismatische Menschen treffen kann. Viele Führungspersönlichkeiten sind sehr gut. Charisma zu haben muss auch nicht das Ziel des Lebens sein, sondern ist einfach nur ein Lebensaspekt, der jedem Menschen offen steht. Mit entsprechender Unterstützung kann jeder sein Charisma und Ki stärken. Es braucht jedoch etwas Mut, um sich auf seine eigene natürliche Kraft einzulassen. Mut deshalb, weil die meisten von uns es nicht mehr gewohnt sind, das Leben aus ganzheitlicher Sicht, mit den unerklärlichen Aspekten, wie z.B. der Lebenskraft des Herzens anzunehmen.

 

Was ist unter Charisma und Ki zu verstehen

Charisma ist der Ausdruck davon, dass Menschen aus dem Ki heraus agieren. Ki (chin. Ch’i) wurde ursprünglich als Grundbegriff der Naturphilosophie im Altertum in China entwickelt. Der Grundgedanke des Ki entstammt der Erfahrung des unmittelbaren Miterlebens mit der Natur.

Im heutigen Japan ist Ki für das traditionelle Verständnis der Einheit von Körper, Geist und Seele einer der wichtigsten Begriffe. So versteht man unter Ki so etwas wie Lebenskraft, Energie, Wirkung, Ausstrahlung. Ki ist in allem enthalten und ist die Kraft, die alles sowohl zusammenhält, wie auch auseinanderdriften lässt. In einer sich ständig verändernden Wirklichkeit stellt das Ki die einzig konstante Größe dar. Im Verständnis von Jesus, wie auch von Buddha und anderen Mystikern kann Ki als Liebe umschrieben werden.

Eines ist gewiss und unumstritten, Menschen, deren Geist und Körper im Einklang sind, können erstaunliche Dinge vollbringen. In Notsituationen entwickeln viele Menschen Kräfte und haben Ideen, von denen im Alltag niemand zu träumen wagt. In diesem Moment sind diese Menschen charismatisch. Man weiß z.B. von Frauen, die Autos anhoben, um verletzte Kinder darunter bergen zu können. Genau genommen agieren wir alle aus dem Ki, aus der Liebe heraus, jeden Moment ohne Ausnahme. Kinder, die noch Kind sein dürfen, agieren aus dem Ki heraus. Wir alle sind Ki-Wesen. Niemand fällt aus dem Ki heraus, und doch gibt es Unterschiede in der Ausdruckskraft vom Ki, wie stark das Ki fließt. Die in Ausnahmesituationen aufkommende Kraft ist Zeichen dafür, dass in jedem von uns Ki vorhanden ist, doch im normalen Lebensalltag verschüttet scheint.

Das ist der große Unterschied zu den charismatischen Menschen, deren Potential (deren Ki) weniger verschüttet ist, und damit mehr Kraft zum Wirken kommen kann. Und eines möchte ich auch noch klarstellen, charismatisch zu sein, heißt nicht, keine Fehler mehr zu machen. All die charismatischen Persönlichkeiten haben auch ihre Schattenseiten. Es sind Menschen wie Sie und ich, mit dem Unterschied, dass sie zumindest phasenweise ihr Leben intuitiver und ganzheitlicher ausgerichtet führen. 

 

Wie können wir das verschüttete Charisma und Ki bergen?

Holen wir uns erneut die von Prof. Wiseman postulierten 3 Eigenschaften charismatischer Menschen, und fragen uns: 

  1. Spüren wir unsere Emotionen, spüren wir unseren Körper und erkennen den endlosen Schwall an Gedanken – jetzt in diesem Moment?

  2. Sind wir in der Lage, uns von den Emotionen, körperlichen Regungen und Gedanken nicht verführen zu lassen, sondern dem Leben zu vertrauen und unsere Kraft zu bündeln? 

  3. Haben wir das Bewusstsein und den Mut, uns von äußeren Einflüssen und Meinungen anderer nicht gleich aus der Mitte, aus unserem Ki werfen zu lassen?

Sein oder nicht sein, sprich fühlen oder nicht fühlen, das ist die Frage und Antwort auf ein charismatisches Leben.  

„To be or not to be: that is the question. “ Shakespeare

Fühlen ist jedoch nur möglich, wenn wir präsent sind. [2] Das heißt, mit den Gedanken und Gefühlen, mit Körper und Geist im Moment, und wirklich nur in diesem jetzigen Moment sein. Ein Samurai, wie auch ein Shaolin-Mönch, trainieren ihren Geist, ihre Emotionen und ihren Körper täglich, um ihre Präsenz im Moment wahrzunehmen, und ihre Präsens immer wieder aufs Neue auf den Moment hin auszurichten. 

Um das Phänomen und die Kraft der Präsenz wirklich zu verstehen, muss man diese aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Die Kraft der Präsenz entsteht, wenn wir:

  • aufmerksam sind

  • nicht be-werten

  • los-lassen

Wir müssen uns jedoch auch die Frage stellen, ob wir überhaupt bereit sind das Charisma und Ki zu re-aktivieren?

  • Wagen wir es, als Führungskraft dem Herzen zu folgen?

  • Wenn ja, wann wollen wir beginnen diese Präsenz zu üben?

  • Wenn nein, dann fühlen sie gerade etwas, vielleicht Angst. Und damit sind Sie gerade mitten drin im Leben, in Ihren Gefühlen, …

So oder so, es kann in keiner Weise schaden, die Aufmerksamkeit, das Nicht-Bewerten und Loslassen als ergänzendes Führungs-Tool in Ihren Berufsalltag zu integrieren. Es hilft Ihnen die Herausforderungen der heutigen Zeit stressfreier zu meistern, und möglicherweise bessere Lösungen zu finden. Im Anschluss möchte ich die 3 Aspekte der Präsenz näher erklären. Vielleicht fühlen Sie sich von der einen oder anderen Gedankenanregung motiviert, und versuchen diese in Ihrem Berufsalltag hier und da versuchsweise einzubauen.

 

Aufmerksamkeit

Die Herausforderung der Aufmerksamkeit ist es, diese ungeteilt wirken zu lassen, sprich dass wir bewusst wahrnehmen, was tatsächlich jetzt, in diesem Moment, passiert.

  • Das heißt u.a., dass wir erkennen, wann die Gedanken z.B. während eines Gespräches oder Meetings abschweifen.

  • Das heißt, dass wir unsere Emotionen und körperlichen Regungen z.B. während eines Telefonates wahrnehmen. 

  • Das heißt, dass wir unsere inneren und äußeren Ablenkungen und Saboteure bewusst erkennen, spüren und auch akzeptieren und nicht wegschieben.

Das klingt plausibel und eigentlich sehr normal, so dass wir meinen könnten, dass wir ohnehin unentwegt so agieren. Aber das ist schon der erste große Trugschluss in unserem Verständnis von Präsenz. Die allermeisten von uns handeln im Modus der geteilten Aufmerksamkeit. Das heißt, die vielen Gedanken, die ständig durch den Kopf schwirren, fesseln uns, verführen uns und lassen uns von dem was im Moment ist in Sekundenschnelle abschweifen.

Die Folge davon ist, dass wir dann auch das Gespür für die Emotionen, und damit den Zugang zu unserem Ki, verlieren. Wir interpretieren die Wirklichkeit anders als diese tatsächlich ist. Wir kreieren in unseren Köpfen eine Art von Wirklichkeit, die so in der Weise gar nicht existiert, und manipulieren unsere Emotionen. Das passiert auch den Shaolin-Mönchen, und damit waren auch die Samurai wie ebenso Jesus konfrontiert. Doch diesen ist gemein, dass sie dieses Phänomen der Verführung durch Gedanken immer wieder aufs Neue erkannten. Der große Unterschied dieser zu anderen ist, dass sie dieses Phänomen durchschauten, und die Kraft aufbrachten, die oft so schönen, verführerischen, erfolgsversprechenden Gedanken und damit zusammenhängenden Emotionen immer wieder aufs Neue losließen.

Und da wären wir beim nächsten Punkt der Kraft der Präsenz und einer charismatischen Ausstrahlung – beim:

 

Los-Lassen

Auch hier verfallen wir meist einem Trugschluss. In diesem Fall der Täuschung darüber, dass wir meinen gut loslassen zu können, obwohl wir in Wirklichkeit gar nicht loslassen, und unsere Gedanken ein Loslassen bloß vortäuschen. Hier und da ist es uns sogar bewusst, dass wir lieber in der erträumten Wirklichkeit leben als in der Realen. Das ist nicht schlecht, das ist menschlich normal. Auch die Samurai, und selbst Jesus waren damit konfrontiert, aber sie konnten die Kraft aufbringen ihre Gedanken frei zu lassen, sich von diesen nicht täuschen, und sich von den aufkommenden Emotionen, wie z.B. Angst, nicht fortspülen zu lassen.

Die wichtigste Eigenschaft des Samurai ist die Freiheit von Furcht.

Genau an diesem Punkt, beim Aufkommen der Emotionen, übernimmt gerne der Saboteur die Führung. Es sind aufkommende unangenehme Gedanken und aufkommende unangenehme Emotionen wie Angst, Trauer, Wut. Ein charismatischer Mensch wagt es zu fühlen, wagt es unangenehme Emotionen bewusst zu spüren, nicht zu bewerten und in Liebe anzunehmen – eine in der Überlieferung große Stärke von Jesus wie auch von Buddha oder den Shaolin-Mönchen. In diesem Verständnis gibt es für charismatische Menschen auch keine Niederlagen.

Das Los-Lassen geschieht konkret durch:

  • ungeteilte Aufmerksamkeit

  • beharrliche Flexibilität

  • verständnisvolles Annehmen von dem was ist, und

  • nicht bewerten der aufkommenden Gedanken, Emotionen und Regungen

Und auch dieser Punkt, das „Nicht be- Werten“ ist eine weitere große Hürde am Weg zu einem charismatischen Leben. Das Nicht-Bewerten ist für die Shaolin-Mönche und Samurai, ebenso für Jesus ein wesentlicher Aspekt, um sich nicht im Wirrwarr von Gedanken und Gefühlen zu verlieren. Erst durch das Nicht-Bewerten können die Kampfkünstler dieser Welt ihre Kraft bündeln, und in vollem Ausmaß zur Wirkung bringen.

 

Nicht Be-Werten

Doch gerade wir, die wir in der westlichen Zivilisation sozialisiert sind, messen Be-Wertung einen hohen Stellenwert bei – beginnend in der Schule mit den Beurteilungen der Leistungen in Form von Noten, bis hin zu den unzähligen Ranking-Listen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Kunst und Kultur.

Diese Bewertungen und die daraus gründenden Vorurteile, welche in der Regel nicht einmal unsere eigenen sind, beeinflussen unsere Gedanken, unser vegetatives Nervensystem, unser Hormonsystem und schlussendlich unsere Emotionen. Durch dieses unentwegte Bewerten können wir eine Situation nicht mehr neutral annehmen und im Jetzt bleiben, sondern verfallen sofort, unbewusst, in ein Reiz-Reaktions-Muster. So verfehlen wir den jetzigen Moment mit all den Möglichkeiten, die in diesem Augenblick für uns bereit stehen.

Charismatische Menschen haben den Mut, das Leben in seiner ganzen Tiefe, mit Haut und Haaren, mit Emotionen und mystischen Aspekten anzunehmen. Die sich daraus entwickelnde Kraft beeindruckt andere Menschen, das kann nicht bestritten werden. Vielleicht deshalb, weil doch einige spüren, dass das Leben mehr ist, als das was sie meinen vom Leben verstanden zu haben und im Leben tun.

 

Welche Rolle spielt Charisma im Zusammenhang mit charakterlicher Integrität?

Jetzt möchte ich noch der letzten Frage in diesem Blog nachgehen, was denn Charisma mit charakterlicher Integrität zu tun hat?

Meiner Meinung nach sehr viel, denn wie ich schon einmal kurz im Blog angeführt habe, Charisma schützt nicht davor, Fehler zu begehen und die aus dem Charisma heraus wirkende Kraft sogar missbräuchlich zu nutzen. Dies zeigt sich auch darin, dass es immer wieder Zeiten gab, in denen sich Menschen starken charismatischen Führern unterordneten. Hierzu gehören viele Diktatoren, aber natürlich auch autokratische Unternehmensführer.

Das Charisma in reiner Form, ohne Nebenwirkung gibt es nicht – außer vielleicht bei erleuchteten Menschen. Unterdrückte Gefühlsaspekte werden das Charisma und Ki als Trittbrettfahrer immer auch zu nutzen versuchen, um von den damit zusammenhängenden Unbefriedigtheiten erlöst zu werden. Und um das zu erkennen, braucht es zum Einen charakterliche Integrität, das Bewusstsein dafür, welche Folgen das eigenen Handeln für andere hat. Zum Anderen braucht es mehr charismatische Menschen, die sich durch das Charisma von anderen nicht so leicht verblenden lassen.

Aber genau das, führt zu einem ganz neuen Aspekt in der Führung. Wenn mehr Menschen ihr Charisma verstärkt zum Ausdruck bringen würden, wären diese resistenter gegenüber der Meinung und möglicher Unterdrückungen anderer. Die Selbstbestimmheit der Menschen würde zunehmen, und das Führen dieser Menschen muss in ganz neuer Weise erfolgen.

  • Löst das etwas in Ihnen aus?

Mit dieser Frage möchte ich diesen Blog beenden. Ich weiß, ich habe Sie diesmal zeitlich wie vermutlich auch mental oder sogar emotional gefordert. Entspannen Sie jetzt, lassen Sie all das los, was Sie soeben gelesen haben, und genießen einfach den Moment.

Ihr Günther Wagner

 

Literaturquellen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Charisma.
[2] Peter Senge, et al: „Presence – Exploring Profound Change in People, Organizations, and Society” (2004).

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