
DAS MILIEU ENTSCHEIDET
Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles – Claude Bernard, Begründer der modernen Experimentalphysiologie.
Dieses Statement kam mir sofort in den Sinn als ich den Kommentar auf LinkedIn zu dem letzten Artikel Visionen prägen die Gegenwart gelesen habe – wo es heißt:
Zu langer Anlauf, zu viele Spielregeln, zu viel Text, zu abtörnend (wo gibt es 2047 noch Marketing Abteilungen???), zu wenig inspirierend, zu wenig Kunst- die unserer Zeit vorausläuft- drin, zu schwer, zu deutsch. Die Teilnehmer bleiben gelähmt in ihren Sitzen im Stuhlkreis sitzen, anstatt auf luftigen Stelzen davonzuschweben. Vergeben Sie das ganze Briefing an eine Designklasse, die Ihnen ein 2 Minuten- Video schneidert und treten Sie, der Sie eher wuchtig als federleicht wirken, mit junger Kollegin auf, die Ihren Inhalten Feuer gibt.
Gleich vorweg, ich finde diesen Kommentar spannend – warum: Weil es mir deutlich macht, wie schwer es ist verschiedenen Ansichten, Meinungen, Vorstellungen, Erwartungen, … in einem Artikel gerecht zu werden. Es zeigt sehr deutlich, dass sich sowohl die Schreibenden als auch die Lesenden entsprechend ihrem Dunstkreis auszudrücken bzw. Annahmen zu schmieden suchen.
Was mir mit diesem Kommentar so richtig gut ins Auge schießt, wie leicht man in den Sozialen Medien den Blick, das Bewusstsein dafür verliert, aus welcher Rolle, welcher Position, welcher Motivation, welcher Zielvorstellung, welchem Background, … man Aussagen tätigt. Neben dem Verschwimmen des eigenen Rollenverständnisses verlieren wir gleichzeitig aber auch das Feingefühl, die Empathie darüber, aus welcher Rolle, mit welchen Erwartungen, Wünschen, mit welchen Bedürfnissen, welcher Motivation heraus andere Artikel, Beiträge, … lesen, kommentieren, schreiben.
Ja natürlich, von einem bestimmten Standpunkt aus mag es stimmen, dass ein 2 Minuten-Video einer Designer-Klasse Visionen sicherlich viel aufregender zu zeigen vermag, als ich es verbalisieren kann. Aber mir ging es in dem Artikel Visionen prägen die Gegenwart gar nicht konkret darum, bereits vollständige Visionen zu präsentieren, sondern vielmehr darum, sich über die unternehmerischen Visionen bewusst zu werden, zu spüren, wie stark diese wirken – im Management, bei MitarbeiterInnen und darüber hinaus bei KundInnen.
Ich bin dennoch für diesen obigen Kommentar dankbar, weil ich damit anschaulich aufzeigen kann, wie sehr wir alle durch unser Umfeld, unsere Milieus, unsere Position die Welt beurteilen, die Welt zu formen suchen. Und das kann oft ziemlich auseinanderdriften. Als Unternehmen scheint Milieuauseinandersetzung vordergründig nicht wichtig zu sein. Aber in Umbruchszeiten, wie aktuell in der Digitalisierung, ist ein Gespür dafür zukunftsweisend, möglicherweise sogar überlebensrelevant.
Meine Aufgabe und mein Bestreben sehe ich in meinen Artikeln und Beiträgen konkret darin, Diskurse über relevante, zukunftsprägende Themen anzuregen, hochzufahren, Perspektivenvielfalt und mehr Verständnis für die Komplexität in Verbindung mit Entwicklungen zuzulassen – worunter mehr Bewusstsein über Milieus ebenso fällt, wie das verdrehte Verständnis und lose Commitment von Visionen – was u.a. mein Anliegen war, den letzten Artikel Visionen prägen die Gegenwart zu schreiben.
Der Kommentar hat mich dankenswerter Weise daran erinnert, was Bernard sagte:
Die Mikrobe ist nichts, das Milieu ist alles.
Der Kommentar hat mir klar vor Augen geführt, wie stark die Wirkungskraft vom Umfeld ist. Als DesignerIn in einem DesignerInnen-Umfeld kann (muss nicht) anders agiert, gedacht, gemacht, Ideen gesponnen werden, als in einem anderen Umfeld – ohne jetzt das eine Umfeld gegen das andere ausspielen zu wollen. Es geht vielmehr darum zu verstehen, dass das Umfeld viel stärker prägt als man meinen möchte, Meinungen, Bedürfnisse, Vorlieben, Ziele, Visionen formt – selbst dann, wenn diese in eine Sackgasse laufen könnten …
Vielleicht machen wir an der Stelle jetzt eine kurze Pause, machen uns bewusst:
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In welchem Milieu bewege ich mich – beruflich, privat?
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Welche Menschen, welche Unternehmensziele, Werte, welche Visionen prägen dieses, mein Milieu?
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Kann ich davon ausgehen, dass auch andere genau diese Weltsicht haben, in einem solchen Milieu wie ich leben?
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Was heißt das im Umkehrschluss für die Arbeit, für Ziele, Visionen, für das Leben, wenn das Milieu unterschiedlich prägt?
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Was übersehen wir, wen wir versuchen das Verständnis von Arbeit, Wirtschaft, Gesellschaft, … nur in Bezug auf das eigene Milieu zu interpretieren und zu formen?
Diese Fragen sind kein 2-Minuten-leicht-luftig-Design-Video, für manche vielleicht sogar unliebsame, zähe Auseinandersetzung mit sich selbst. Und genau dieser Punkt, die leibhaftige Betroffenheit wird aktuell mehr denn je ausgeklammert.
Man will sich lieber mit feinen 2-Minuten-Häppchen die Zukunft mit anregenden Designs versüßen. Dagegen ist gar nichts zu sagen, das ist gut, das inspiriert, das gefällt mir auch, dass macht Spaß und motiviert. Aber wir vergessen bzw. übersehen die Schatten, all das, was außerhalb unserer Wahrnehmungswelt, unserem bevorzugten Milieu existiert. Und genau das kann Unternehmen gefährlich werden – insbesondere in Umbruchzeiten.
Mein Anliegen ist es, sich der Schatten bewusst zu sein, Diskussionen, einen deep space anzuregen, in Kooperativen, im Austausch unterschiedlichster Milieus, Entwicklungen, die Zukunft zu diskutieren, zu gestalten, umzusetzen. Ich agiere nicht als Designer, der leichtfüßig Visionen ins Netz stellt, sondern ich möchte gemeinsam mit Unternehmen deren Visionen zu spüren suchen.
Dahingehend verstehe ich auch die Bar 2047, zu der ich Euch in meinem letzten Artikel Visionen prägen die Gegenwart eingeladen habe. Eine Bar, die nicht nur von Designern ins Leben gerufen wird, sondern erst durch das Zusammentreffen, Zusammenwirken von unterschiedlichsten Menschen zu einer besonderen Begegnung mit der Zukunft wird.
Wenn wir es wagen möchten, Visionen ernsthaft gegenüberzutreten, dann glaube ich, dass wir nicht nur unsere Vorstellungskraft mit einem 2-Minuten-Designer-Video ankurbeln sollten, sondern das eigene Umfeld zuerst einmal leibhaftig verlassen, andere, fremde Orte aufsuchen, uns ein anderes Umfeld einverleiben sollten. Doch genau das widerstrebt den meisten. Stell Dir vor, Du sollst jetzt von einem Tag zum anderen die Abteilung wechseln, in ein Arbeitsumfeld gehen, dass gar nicht Deinem Milieu entspricht – wie würde es Dir gehen?
Und weil genau das so schwierig ist, habe ich die Idee, dass wir uns gemeinsam in einem etwas geschützteren Rahmen in der Bar 2047 treffen, in einem Milieu der Zukunft … Und ja, vielleicht sehen wir dort auch ein geniales Video über die neuesten Designs, kommen persönlich ins Gespräch mit einem außergewöhnlichen Gast, schmecken die Zukunft – nicht nur in Gedanken, sondern leibhaftig …
Mit besten Grüßen
Günther
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