
DER TURM OHNE SORGEN
Ein Traum wird wahr! Wohnen mit Kirschbäumen im 8 Stock mit vertrautem (un)echten Vogelgezwitscher. Ich nehme meinen Laptop und locke mich in ein Zoom-Meeting ein. Danach mache ich Sport, gehe Schwimmen in 35 m Höhe über den Straßen zwischen 2 Hochhäusern, ein Gefühl der Schwerelosigkeit, ein Gefühl von Leichtigkeit, von anregender Ent- und Anspannung macht sich breit. Danach beantworte ich Mails, telefoniere, mache eine kleine Spazierrunde – gehe auf den Turm ohne Sorgen, von wo aus man einen wunderbaren Fernblick hat, die Welt im Frieden scheint, alles möglich scheint … Ein Ort zum Träumen, ein analoger Ort im Kulturquartier, in der Ausstellung Höhenrausch leibhaftig zu erleben.
EIN REALES MÄRCHEN FÜR ERWACHSENE
Egal was, real oder digital, nahezu alles scheint möglich. Jeder und jede kann sich (scheinbar) verwirklichen, im Netz Zugang zu Wissen und Informationen holen, sich vernetzen, Arbeit und Leben in ganz neuer Weise planen, …
Manche träumen von einem gigantischen virtuellen Büro, wo man sich in abenteuerlichen Meeting-Räumen digital trifft, wo man mit einem selbst kreierten Ich, mit einem Wunschbild von sich selbst, die anderen ArbeitskollegInnen beeindruckt …
Manche treffen sich auf digitalen Plattformen, um gemeinsam Lieder der Popsängerin Madonna zu singen, sich selbst in neuer Weise mit anderen zu erfahren, über sich selbst hinauszuwachsen, sich bedeutsam zu fühlen, …
Visionen, Wunschbilder, Träume werden im Netz scheinbar zur Realität. The Whole Earth Catalog kann dahingehend als ein Vorreiter gesehen werden, ein Produktkatalog für den täglichen Bedarf, damit sich in den 68igern Hippiekommunen am Land versorgen konnten. Stewart Brand war der Erfinder und Herausgeber.[1] Steve Jobs bezeichnete diesen Katalog sogar als analogen Vorläufer von Google und deklarierte diesen als „Bibel“ der Hippie-Generation.[2]
Der Traum eines vernetzt agierenden Bewusstseins mit Freiheit für jeden und jede mit uneingeschränkten Möglichkeiten beginnt sich zu verwirklichen, scheint zum Greifen nahe – ein Traum der Hippies wird scheinbar real, eine weltumspannende Arbeits- und Lebensrevolution.
Wir alle sind leibhaftig bei diesem Experiment dabei, sind Teil dieser Revolution, befinden uns mitten im Sprung hin zu neuen Lebensformen. Wir sind im Inbegriff neue Lebensstandards zu etablieren, Produktionsweisen gänzlich neu zu revolutionieren, Arbeitsprozesse ganz neu aufzusetzen … Arbeiten, die bisher für Menschen nicht schaffbar sind, aber auch Arbeiten beispielsweise am Fließband, die unwürdig, schlecht bezahlt sind, uvm. … können bald im richtig großen Stil den neuen Technologien überlassen werden.
Das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten beginnt. Eine Zeit in der alles für jeden und jede machbar, erreichbar, möglich scheint – digital ohnehin für so gut wie alle rd. 7,8 Milliarden Menschen, real für … Genau an dem Punkt beginnt der Traum zu platzen, der Turm zu wackeln …
Wer jetzt meint, ich wäre sarkastisch. Wer jetzt das Gefühl hat, ich meine es nicht ernst, sondern versuche plump und plakativ medial aufreizend das Thema neue Technologien, Digitalisierung schlecht zu machen, dem möchte ich antworten – Jein!
Zum Einen meine ich es tatsächlich ernst, dass durch die neuen Technologien und die Digitalisierung vielleicht wirklich ein neues Bewusstsein in Bezug auf Arbeit und Leistung aufgebaut werden könnte. Warum, weil wir durch die neuen Technologien und die damit verbundenen Einsparungen uns gleichzeitig überlegen müssen, was wir mit den vielen frei gewordenen Ressourcen, u.a. Arbeitskraft Mensch, machen werden. Eine gute Chance, das Potential der menschlichen Kreativität und Vielseitigkeit ganz neu zum Einsatz zu bringen.
Abgesehen davon könnten die neuen Technologien, sinnvoll eingesetzt, auch das unleidige, unliebsame, gerne weggeschobene Thema Klimawandel zu einem Innovationsboost der Produktionen und des Welthandels werden lassen. Man könnte 2 Fliegen mit einem Schlag treffen, unzählig viele neue Arbeitsfelder schaffen, die es braucht – auch wenn das viele in den Unternehmen und der Politik so nicht sehen bzw. verneinen. Schaden kann aber ein Aufwind an neuen Arbeitsplätzen so oder so nicht.
Der Turm ohne Sorgen, eine bessere Gesellschaft, wovon Blumenkinder, Hippies träumten, könnte tatsächlich mit Hilfe der neuen Technologien gebaut werden – aber nicht sarkastisch gemeint, nicht umnebelt vom Höhenrausch, sondern ernsthaft sinnvoll, weit vorausdenkend, Umwelt empathisch, dank der technologischen Revolution …
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Machen wir jetzt an der Stelle einen kurzen Break.
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Was geht Dir im Moment durch den Kopf?
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Unverständnis? Ärger? Das Gefühl, Du verschwendest Zeit, wenn Du diesen Artikel, einen Nachruf auf Hippies, liest? Langeweile, weil das Thema für Dich und Deine Arbeit in keiner Weise relevant scheint …
Meine Ansicht, mein Empfinden dazu: Relevanz gibt es, die aber unbemerkt, unter dem Radar den Turm ohne Sorgen hinaufkriecht. Die Digitalisierung und Technologisierung, wie sie aktuell gehypt wird, mit den uneingeschränkten Möglichkeiten neue Gewinne zu erzielen und neue Absatzmärkten zu forcieren, hat Schattenseiten, macht den Turm ohne Sorgen instabil.
DIE BLINDEN FLECKEN IM HÖHENRAUSCH
Von niemand anderem als von Microsoft kommt die groß angelegte Studie während des Hypes in der Corona-Pandemie, wo man das, was die Internetgiganten als die Zukunft, die Revolution, das neue Leben und Arbeiten feiern, in der Power zurückstuft.
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Zum einen hat sich gezeigt, dass sich 54% der Arbeitskräfte überlastet fühlen. 39% sind erschöpft, insbesondere die Generation Z muss schon reanimiert werden.
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Der Teamgeist bricht zusammen. Man agiert nur noch im engsten Kreis, und selbst das lässt, je länger man weiter brav digital arbeitet, nach.
Resümee der Studie:
Die Unternehmen agieren in- und extern isolierter als vor der Pandemie, vor dem digitalen Superboost. Die Folge: Wenn sich die Verbindungen verlieren, sinkt der Innovations-, der Motivations-, der Kooperations- und Teamgeist. 41% der Arbeitnehmer erwägen bereits, den derzeitigen Arbeitgeber zu verlassen. 46% gaben an, demnächst umzuziehen, weil man ohnehin aus der Ferne arbeiten kann.[3]
Anders, aber nicht ganz so weit entfernt von dem was Microsoft in der Studie unter sinkender Innovationskraft versteht, zeigt eine Studie aus Schottland, dass soziale Isolation die kognitiven Funktionen beeinträchtigt. In dieser Studie konnte man, wie schon aus anderen Studien vorausging, zeigen, dass isoliertes Arbeiten und Leben Defizite in der Aufmerksamkeitsverarbeitung aufweist.
Erschreckend in dieser Studie ist, dass die Einschränkung des Sozialverhaltens zu einer schlechteren und riskanteren Entscheidungsfindung führt. Wer nun meint, man sei doch ohnehin ständig online im Austausch, und damit nicht isoliert, dem kann gesagt werden, dass Onlinekommunikation die Einschränkungen nicht ausgleichen kann. Digital ist man meist nur noch in einem eingeschränkten Kreis online miteinander im Austausch. Die vielen spontanen Treffen am Gang, vor dem Büro, im Aufzug, und alles darüber hinaus … fallen unter den Tisch. Online-Interaktionen erweitern so gesehen in keiner Weise den Lebensraum, aber genau dieser ist für eine kognitive gute Leistungsfähigkeit und Innovationskraft relevant.[4]
Man könnte zwar meinen, man befindet sich noch im Turm ohne Sorgen. Es mag sich tatsächlich so anfühlen, es scheint keine Risiken zu geben, keine eingeschränkten kognitiven Einsichten durch einen Mangel an Austausch, einen Mangel an Eindrücken, … Aber die damit verbundenen Risiken kriechen unbemerkt weiter hoch. Der Höhenrausch wirkt noch, aber der Turm ohne Sorgen wird instabil. Viele Probleme, die man im Netz einfach mit einem Mausklick wegklicken kann, nagen ungesehen am Turm ohne Sorgen, u.a. die auf Schnelligkeit, Effizienz, auf Billiglohnländer abgewälzten Produktionen.
Die Coronakrise zeigt so deutlich wie kaum zuvor, wo Engpässe bzw. Problemfelder sind. Neben Klimawandel, Überbevölkerung, Überalterung, der deutlich ansteigenden Cyber-Kriminalität nagen Ressourcenengpässe an der Stabilität vom Turm ohne Sorgen. Nach Holz und Mikrochips wird aktuell auch schon der Kunststoff knapp. Wie eine aktuelle Ifo-Studie zeigt, hat knapp jeder zweite Industriebetrieb mittlerweile Probleme Nachschub für seine Vorprodukte zu bekommen. Noch viel heftiger könnte es uns bei einem Engpass von Generika treffen. Rund 80% unserer Medikamente sind Generika, und 70% davon kommen aus Indien. Wenn Indien nun einen harten Lockdown verhängt, dann könnte das Wellen schlagen, die den Turm ohne Sorgen von einer weiteren Seite zum Wackeln bringen …
ZIELE MIT WEITSICHT
Ich weiß, wieder scheinen meine Worte, meine Ansichten mehr in Richtung Kritik, als hin zu Zweckoptimismus zu laufen. Manche mögen das nicht gerne lesen. Manche finden es überzogen – in gewisser Weise zu Recht. Wir sind Harmonie geprägte Wesen, wir wollen keine unangenehmen, lustlosen, zukunftsängstigende Themen. Wir wollen das Leben genießen. Wir wollen das, was mit den neuen Technologien machbar ist, in neuer Weise in unser Leben integrieren und uns daran erfreuen, u.a. an einem Kirschbaum im Spiegelgarten im 8 Stock, oder an einem Glas-Pool in 35 m Höhe, uvm …
Ich möchte diese Art von Lebensbefriedigung niemandem nehmen. Ich frage mich nur, ob die digitale Revolution es auch schafft, die neuen Lebensstandards und die damit verbundenen Bedürfnisbefriedigungen auch für eine größere Gruppe von Menschen, streng genommen für die fast 8 Milliarden und bald 9 Milliarden Menschen zu gewährleisten – und das noch dazu mit einem stattfindendem Klimawandel, den damit verbunden Ressourcenengpässe, Migrationsströmen, neuen Umweltkatastrophen?
Sind wir bereits unbewusst an dem Punkt, im Turm ohne Sorgen, wo wir uns gedanklich von allem zurückziehen, was in Zukunft an Problemen auf uns einprasseln könnte? Das wäre menschlich gesehen total verständlich. Niemand will leiden. Jeder und jede will bestmöglich leben und dank der neuen Technologien und dank der Digitalisierung scheint das zumindest in den digitalen Welten sogar möglich zu sein. Doch, die digitale Welt ist eine Illusion, die reale Welt wird trotz bester Digitalisierung und scheinbar besten Absichten und Produktionsverbesserungen möglicherweise darauf ganz anders reagieren, als wir uns das gerade so schön erträumen …
Die Technologien zu priorisieren, mag manchmal sinnvoll sein. Aber irgendwann muss man es auf den Punkt bringen, dass viele sich selbst damit aus dem Weg räumen. Einerseits können wir mit der Digitalisierung ein Leben und eine Arbeitsweise kreieren, die uns scheinbar vieles, was unliebsam ist, abnehmen könnte. Das hört sich noch sehr gut an?! Menschen wünschen sich für sich selbst und manche auch für andere, bestmöglich zu leben und zu arbeiten, unter guten Bedingungen mit Jobs, die weder ausbeutend sind, noch als unterfordernd und stupid angesehen werden, einen zufriedenstellenden Lebensunterhalt verdienen können – und das für aktuell knapp 8 Milliarden Menschen.
So gesehen ist die Digitalisierung vielleicht wirklich eine neue Chance, sich in revolutionärer Weise Gedanken zu machen, wie die Arbeitswelt von morgen aussehen könnte, welche Jobs gefragt sind, und darüber hinaus welche Jobs auch zum Erhalt von 8 Milliarden Menschen zumutbar sind.
Vielleicht ist es dank neuer Technologien tatsächlich möglich, das Leben auf dem Planeten Erde zu revolutionieren, so dass man wirklich von einem neuen Zeitalter sprechen kann, von einem innovativen Boost, der die Welt in Atem hält – aber nicht negativ, sondern tatsächlich positiv …
Das wäre u.a. vielleicht auch im Sinn der Hippies, die den Grundstein dazu gelegt haben. Und gleich im Anschluss an die Träume der Hippies, möchte ich Dich zum Abschluss von diesem Artikel fragen:
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Welche Ziele strebt Dein Unternehmen für die Zukunft an?
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Will Dein Unternehmen einen eigenen Turm ohne Sorgen bauen bzw. hat diesen schon gebaut?
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Worauf fußt dieser Turm?
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Wie stabil ist dieser Turm ohne Sorgen?
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Wer bzw. was könnten diesen Turm zum Kippen bringen? Die eigenen MitarbeiterInnen, fehlende Verbesserungen, falsche Entscheidungen, Umweltkatastrophen, Cyber-Attacken, Ressourcenengpässe, …
Wünsche Dir einen erfolgreichen Tag
Günther
PS: Um meine zukünftigen Beiträge, insbesondere News im Umgang mit der Corona-Krise mitbekommen zu können, folgen Sie mir auf LinkedIn, Xing und Twitter. Darüber hinaus finden Sie in der Gruppe „Leadership Café …“ neben meinen Beiträgen ebenso Beiträge anderer HR Influencer.
Informationsquellen:
[1] Was Hippies und Cyberkultur verbindet: „Wir wollten den Geist erweitern“ – taz.de. Am 2021-05-11 gelesen.
[2] Wieviel Hippie steckt im Silicon Valley? (fluter.de). Am 2021-05-11 gelesen.[3] https://www.microsoft.com/en-us/worklab/work-trend-index/hybrid-work. Am 2021-05-11 gelesen.[4] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/acp.3821. Am 2021-05-11 gelesen.