Dilemmata
NEW ECONOMY – ANGEBLICH ÜBERWERTET ABER WIE BLINDGÄNGER EXPLOSIONSGEFÄHRLICH

NEW ECONOMY – ANGEBLICH ÜBERWERTET ABER WIE BLINDGÄNGER EXPLOSIONSGEFÄHRLICH

Die Medien haben sich in Bezug auf die Aussagen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert überschlagen. Kühnert ist der Meinung, dass es an der Zeit wäre, Firmen – wie beispielsweise BMW – zu kollektivieren, um der zu starken Zentrierung von Macht und Gewinn Einhalt zu gebieten.

So fasse ich es zumindest auf, wenn ich das, was die Medien über das Interview mit Kühnert schreiben, reflektiere. Vielleicht meinte es Kühnert tatsächlich genauso, wie es durch die Medienlandschaft ging. Doch JournalistInnen haben Kühnert auch gezielt zu bestimmten Aussagen gedrängt. Die Meinung, die Kühnert vertritt, passt zwar zu dem was die JournalistInnen schreiben, aber Kühnert hat es nicht direkt so formuliert, wie es jedoch vielerorts zu lesen ist.[1]

Nun, dieses Phänomen, Aussagen und Meinungen zu verschärfen, ist alltäglich und ziemlich normal – insbesondere in hoch medialen Zeiten, wo sich so gut wie jeder von anderen abzuheben sucht. Doch das ist jetzt nur eine Randerscheinung zu dem, was ich konkret in Bezug auf die Aussage von Kühnert als Nachdenkenswert ansehe.

Warum ich Kühnerts Meinung, Unternehmen zu kollektivieren, aufgreife, beruht auf meinem Unbehagen, ob das, was wirtschaftlich so läuft, tatsächlich für längere Zeit so noch handhabbar sein wird. Die Gründe, warum das gängige Wirtschaftssystem kippen könnte, sind weitaus vielfältiger als wir für möglich halten. Das beunruhigt mich schon länger. Eine Zeit lang dachte ich, es ist gar nicht so schlimm, ich sehe alles nur etwas zu schwarz. Aber je mehr ich mich in die Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI), Vernetzung im globalen Wettstreit hineinbewege, desto mehr erkenne ich neben spannenden Errungenschaften auch dunkle Wolken.

  • Dabei ist das systemische Ungleichgewicht zwischen der Macht- und Gewinnzentrierung einerseits und dem Rest bloß ein Aspekt, der irgendwann einmal das Fass zum Überlaufen bringen könnte.

  • Softwareentwicklung, aber noch umfassender gesehen die gesamte Digitalisierung, beruht auf den Prinzipien des agilen Manifests. Doch eines zeigt sich: Trotz der umfassenden Weiterentwicklungen spricht man davon, dass die agile Bewegung gescheitert ist [2] – warum, weil die Prinzipien agilen Arbeitens mehr verlangen als das, was die meisten Unternehmen und deren Management bereit sind dafür einzusetzen.

  • Darüber hinaus mag die KI in Verbindung mit Biotechnologie der Menschheit unfassbare neue Lebensmöglichkeiten bieten, aber gleichzeitig möglicherweise Folgen mit sich bringen, die man nicht bedenkt bzw. bedenken will.[3]

  • Aber es wird auch die mögliche Machtverschiebung, hin zu den KundInnen unterschätzt. Diese können aufgrund der Digitalisierung und Vernetzung in Zukunft auf die Produktentwicklung deutlich mehr Einfluss nehmen, als man es für möglich hält.[4]

Ich möchte Ihnen zu dem letztem Punkt ein Beispiel nennen:

  • Der Designer Dave Hakkens sorgte sich um den wachsenden Berg an Elektronikschrott und präsentierte die Idee eines modularen Handys – phonebloks: Statt alle paar Jahre das neue Modell eines Smartphones zu erwerben, schlug er ein cleveres Modulsystem vor, bei dem sich Batterie, Display oder Prozessor einzeln austauschen lassen. Sein Konzeptvorschlag erreichte im Netz mehr als 360 Millionen Menschen. Die überwältigende Zahl von UnterstützerInnen ließ aus seiner Idee ein Produkt werden.[5]

Die Fließrichtung der Wirtschaft vom Produkt hin zu KonsumentInnen hat sich über Nacht umgekehrt, und macht plötzlich die Industrie zum Dienstleister der informierten KundInnen. An immer mehr Stellen zeigen sich erste feine Risse im Fundament der ökonomischen Struktur. Das Internet wird zum Geburtshelfer einer neuen Art des Wirtschaftens. Man kann davon ausgehen, wenn ein wirtschaftlicher Ansatz wie der von Hakkens öfter zur Realität wird, dann kann man nicht mehr von der Wirtschaft im herkömmlichen Sinn sprechen, sondern muss von New Economy reden – so die Meinung von Frank Schirrmacher †, Journalist, Essayist, Buchautor, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[6]

 

NEW ECONOMY IST ABER NICHT GLEICH NEW ECONOMY

Lt. anerkannten, im Netz zu findenden Definitionen spricht man vorwiegend dann von New Economy, wenn man von einer auf Warenproduktion hin ausgerichteten Wirtschaft auf eine Dienstleistung, insbesondere webbasierte Dienste ausgerichtete Wirtschaftsweise umsteigt. Die industrielle Massenfertigung von Waren wird weniger wichtig werden, und die bisher gültigen Grundannahmen der kapitalistischen Wirtschaftsweise ihre Bedeutung verlieren. Die Prioritäten liegen in der Informationsökonomie, d.h. im weltweiten Wettbewerb um innovative Ideen, in der Erzeugung, Verarbeitung und Verbreitung von Informationen. Physische Arbeitsprozesse und Absatzkanäle würden dabei weitgehend von digitalen Prozessen überlagert. Doch diese Sicht der New Economy hat sich bis dato so nicht bestätigt, und hat auch nicht die Grundregeln des Kapitalismus außer Kraft gesetzt.[7]

Aber man sollte sich deshalb nicht sicher fühlen, in der bisher wirksamen Art die Wirtschaft zu managen und Gewinne zu generieren. Die New Economy im alten Definitionsverständnis vermochte die bisher wirksamen Wirtschaftsstrategien nicht lahmzulegen. Doch die New Economy im weiterentwickelten Sinn, mit den erweiterten Möglichkeiten der Digitalisierung in Verbindung mit der KI, der Biotechnologie und der globalen Vernetzung sprengt alles, was bisher möglich war.

Künstliche Intelligenz (KI) und Biotechnologie verschaffen der Menschheit die Macht, das Leben zu verändern und zu manipulieren – mit Folgen, die auf allen Ebenen wirken werden. Yuval Noah Harari, israelischer Historiker, spricht von der doppelten Revolution, einer Zwillingsrevolution. Er hat dabei jedoch weniger die Befürchtung, dass eine Gruppe von Menschen in einer neuen Art von Ausbeutung untergeht, sondern spricht von etwas viel Schlimmeren – von der Bedeutungslosigkeit von Milliarden von Menschen, die fast jeden treffen kann, mit Ausnahme einer winzigen Elite.[8]

Nicht ohne Grund fordern die Ökonomen und Nobelpreisträger Paul Samuelson und Franco Modigliani einen offeneren Geist in den Wirtschaftswissenschaften.[9] Es sei dringend notwendig, über den Tellerrand zu blicken, die alten wirtschaftstheoretischen Überlegungen hinter sich zu lassen. Die Digitalisierung, die Vernetzung, KI, Biotechnologie, … und die damit verknüpfte neue Art Wirtschaft zu betreiben, kann nicht auf den Grundlagen der Wirtschaftstheorien von Adam Smith und den Lehren vom Nutzen durchgespielt werden.

Auch wenn ich mich in meinen Aussagen wiederhole, immer wieder in unterschiedlichen Artikeln und Beiträgen kritisch die Digitalisierung bzw. den Umgang der Unternehmen mit der Digitalisierung, den Einsatz von KI und Biometrik, beleuchte, werde ich nicht müde, darüber zu schreiben. Je mehr ich mich in das Themenfeld Digitalisierung hineinarbeite, desto deutlicher zeigen sich neben den spannenden Seiten auch die Schatten.

Mag sein, dass Sie die Skepsis in Bezug auf die Digitalisierung vollkommen überzeichnet sehen. Sie wollen einfach unternehmerisch die mit der Digitalisierung verbundenen Probleme lösen. Ich gebe Ihnen Recht, Sie brauchen vermutlich rasch Lösungen, um im Wettstreit mit anderen Unternehmen die Digitalisierung im Unternehmen so aufzusetzen, dass Ihr Unternehmen weiterhin erfolgreich bleibt. Doch eine zu rasch aufgesetzte Lösung kann gerade im Digitalisierungsprozess, der schnell und agil läuft, die Lösungen bald einholen und ganz neue Probleme aufwerfen. Schirrmacher schreibt:

Der jetzige Kurs der Digitalisierung würde in seiner Entwicklung eine digitale Hochrüstung zur Folge haben und eine Welt von Firewalls, Kontrollen und Cyberkrieg zwischen Europa, den USA und China bedeuten. Er vergleicht es mit der nuklearen Hochrüstung im Kalten Krieg, die perverse Ausmaße annahm, aber aufgrund der Explosion der Kosten beendet werden musste. Heute gibt es einen globalen Konsens, dass Atombomben keine reale Option sind. Aus jetziger Sicht hätte man sich somit dieses kostenintensive nukleare Spiel schenken können, und jede Nation hätte wohl davon profitiert. Conclusio: Vielleicht sollte man dieses Wissen auf die Digitalisierung umlegen, und sich beispielsweise von klugen Ökonomen die langfristigen Kosten einer zu einseitig betrachteten Digitalisierung mit den ungesehenen möglichen Folgen vorrechnen lassen.[10]

Sicher gibt es genügend Unternehmen, die verantwortungsbewusst den Digitalisierungsprozess zu managen suchen, und Entscheidungen in Verbindung mit den gesamtsystemischen möglichen Folgen treffen. Aber nichtsdestotrotz ist nicht zu leugnen, dass viele Entscheidungen rein aus gewinntaktischen Gründen getroffen werden – ohne Bedacht auf die gesamtsystemischen Auswirkungen, als ob mögliche Folgen nur in so kleinem Maße real werden könnten, so dass man diese unbedenklich wegen ihrer Unbedeutsamkeit ausklammern kann.

Der Dieselskandal von VW ist ein Beispiel. Dieser zeigt, dass man denkbare Folgen durch die Installierung einer manipulierten Software nicht angedacht hat – zu sehr ist man anscheinend dem Druck oder Reiz zu gewinnen erlegen gewesen. Aber in einem System kann man nichts auf Dauer verheimlichen, irgendwann kommt jeder Betrug, jede Lüge, jeder Missbrauch an die Öffentlichkeit. Und gerade im digitalen Zeitalter verbreiten sich die Aufdeckungen von Missbräuchen in Sekundenschnelle global – VW ist nur ein Beispiel dafür. Das kann jedoch ein Unternehmen sogar zu Fall bringen. Vielleicht ist man deshalb so sehr bemüht ein Riese zu werden, in der Hoffnung als systemrelevanter Player im globalen Wettkampf Fehlentscheidungen besser aussitzen zu können?! Aber auch das hat Folgen.

Man wird sich dem Dilemma stellen müssen:

  • Einerseits vom Wachstum getriggert zu sein, alles daran zu setzen, den Gewinn zu maximieren und Wachstum am Laufen zu halten, mit der Konkurrenz mitzuhalten, die in ähnlicher Weise getriggert und entsprechend ausgerichtet agiert – ohne Bedacht für mögliche umfassende Folgen.

  • Andererseits die gesamtsystemischen Wirkungsweisen und Verknüpfungen unterschiedlichster Felder ernst nehmen, mögliche Folgen für das Gesamte mitberücksichtigen, weil die Folgen irgendwann rückwirken könnten. Jedes System, das missbraucht wird, kippt irgendwann. Die Folgen müssen dann alle tragen, inkl. jenen, die das Kippen mitverschuldet haben.

  • Das Dilemma – einerseits Gewinn, andererseits unangenehme mögliche Folgen – treibt die meisten hinein in das Verdrängen von Folgen, in das Verdrängen der Angst, der Scham in Verbindung mit einer ehrlichen Betrachtung von dem, was man tut.

Doch die möglichen Folgen zu eng gesetzter Entscheidungen kann man nicht wegsperren, die Folgen werden sich zeigen – früher oder später. Dann wird man sich der Angst, warum man bestimmte Entscheidungen getroffen hat, die eigentlich fragwürdig waren, der Scham, dass man gegen das Verantwortungsbewusstsein gehandelt hat, stellen müssen – vielleicht ist es aber dann zu spät …

Mag sein, dass Sie wie die meisten anderen vorwiegend nur den Erfolg im Sinne von Gewinn und Machtsicherung im Fokus haben. Sie müssen es sogar, weil Sie im globalen wirtschaftlichen Wetteifer mithalten müssen/wollen, ansonsten verlieren Sie bzw. das Unternehmen und damit auch die MitarbeiterInnen den Anschluss. Doch die Digitalisierung wird genau diesen Denkansatz unter Umständen aushebeln, subtil, in kaum wahrnehmbarer Weise – aber in einer Geschwindigkeit, die wir nicht für möglich halten.

Wir agieren wie Frösche in einem Kochtopf, dessen Wasser zum Kochen gebracht wird. Und wir merken nicht, dass es irgendwann für uns Frösche zu heiß wird. Das Heißwerden bagatellisieren wir, es wird schon nicht schlimmer werden. Bis jetzt geht es doch noch, und manche finden es sogar fein mit dem wärmer werdenden Wasser, sind getriggert durch das was man ihnen als Frösche für die Zukunft im Topf versprochen hat – so sehr, dass die Frösche nicht mehr spüren und wahrnehmen was eigentlich wirklich mit ihnen passiert.

Vielleicht finden manche von Ihnen diese Anekdote amüsant, andere vielleicht unpassend, meinen, das sei üble Schwarzmalerei, Anerkennungshascherei – genau das was die JournalistInnen mit Hilfe der Aussagen von Kühnert ebenfalls an Aufsehen anzuregen suchten. Wie dem auch sei, ich sehe die Probleme und wirtschaftlichen Herausforderungen im Digitalisierungsprozess global und rückwirkend regional, bis hin familiär vielleicht auch etwas zu negativ. Mag sein, dass die Digitalisierung und die damit verbundenen wirtschaftlichen Veränderungen gesellschaftlich und Umwelt bezogen ins Positive rutschen. Doch mit wieviel echter Überzeugung können Sie das tiefgründig beherzt bejahen?

Wenn Sie aktuell zu den Top-GewinnerInnen zählen, mögen Ihnen manch unangenehme Folgen der Digitalisierung vielleicht gleichgültig sein. Sie versuchen sich unter Umständen abzusichern. Aber wer weiß, ob das wirklich funktioniert. Ein möglicher digitaler Wettkampf zwischen Europa, USA und China, Überalterung in Europa, global unsaubere Luft, Klimaerwärmung, Verunreinigungen der Meere, Artensterben, Übernahmen von Tätigkeiten durch KI auf allen Ebenen in allen Sparten, Überwachungssysteme, uvm … kann auch Sie irgendwann einmal persönlich so treffen, dass Sie unangenehm berührt werden könnten.

Ihnen mag mein vieles Gerede um die schwarzen Wolken im Digitalisierungsprozess vielleicht schon nerven, manchen an den Haaren herbeigezogen erscheinen, unter Umständen auch schon langweilen. Sie wissen vermutlich, dass Sie möglicherweise in Ihren Entscheidungen und in der klaren Ausrichtung auf Gewinn und Wachstum und sich für manche negativen Folgen abseits des Unternehmens mitverantwortlich machen. Aber Sie gehen unter Umständen davon aus, dass die Folgen nur marginal sein werden, keiner Rede wert seien. Es wird Sie persönlich auch nicht so schnell treffen. Und all jene, die möglicherweise doch die Folgen schon jetzt zu spüren bekommen, die haben für sich vorgesorgt oder werden vom noch finanzierbaren Sozialbudget vom Staat irgendwie über die Runden kommen, ganz im Sinne: Jeder ist seines Glückes Schmied. Doch in digitalen Zeiten kann das auch wiederum schnell kippen, dann sitzt wer anderer im Rampenlicht: Wie gewonnen so zerronnen.

Ich muss zugeben, ich bin fast schon ein wenig frustriert, weil ich glaube, dass einige die umfassenden systemischen Umwälzungen und die damit verbundenen möglichen Folgen im Digitalisierungsprozess nicht wahrhaben wollen. Das kann ich zwar gut verstehen, niemand will sich mit den dunklen Wolken auseinandersetzen, sondern sich lieber im strahlenden Sonnenschein bewegen. Das ist das gute Recht von jedem und jeder!

Niemand ist gezwungen sich über den komfortablen Tellerrand hinaus zu bewegen, niemand soll gemüßigt sein sich mit den weniger erfolgsverheißenden Seiten auseinanderzusetzen. Die Verantwortung für das Überleben vom Unternehmen im globalen Wettbewerb steht für Führungskräfte an erster Stelle, und ist bedeutsam genug. Der Kampf im Wettbewerb mag die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dabei übersieht man jedoch die engen Verflechtungen und gegenseitigen Rückkoppelungseffekte von Unternehmen, Umwelt und Gesellschaft.

Nehmen wir den Prozess der Industrialisierung her. Diese war für UnternehmerInnen ein verheißungsvoller Traum mit unglaublichen Möglichkeiten und Erfolgspotentialen. Aber die Realisierung von dem Traum führte zunächst einmal zu einer Prekarisierung breiter Schichten, zu neuen Krankheiten und zu Umweltzerstörung. Der Wohlstand und die Freiheit der einen waren zunächst einmal die Armut und Unfreiheit der anderen. Dass dieser Prozess der Industrialisierung letztlich auf unserem Kontinent zu einem gesellschaftlichen Fortschritt führte, der Wohlstand und Freiheit für viele brachte, war das Ergebnis eines langen politischen Kampfes [11] – das haben wir jedoch nicht mehr vor Auge, sondern nur noch die hart erkämpften positiven Aspekte.

Viele meinen ernsthaft überzeugt, so ungut wie damals in der Industrialisierung wird es in der Digitalisierung nicht werden. Wir sind doch jetzt viel reflektierter und beachten mögliche Folgen deutlich mehr, wir denken viel weiter. Doch wie weit denken wir wirklich, wenn wir Entscheidungen im Digitalisierungshype treffen?

Man ist dazu geneigt zu meinen, dass alle gleichermaßen von Veränderungen profitieren – auch von der Digitalisierung. Aber das ist eine Illusion. NSA und Wall Street sind keine Wohltäter, und die meisten Unternehmen sind von Profitstreben getrieben. Die MitarbeiterInnen werden als hart zu kalkulierende Kostenstelle gesehen und weniger als menschliche Bereicherung. Die neuen Technologien und die damit verbundenen Ziele werden vermutlich keine neuen Wohltäterunternehmen aktivieren, sondern im Kampf um die Gewinne die Folgen für die Gesellschaft ausblenden, solange es geht. Schirrmacher spricht an dieser Stelle von der Naivität, der viele erliegen. Aber er fragt sich, ob wir uns die Naivität über längeren Zeitraum hinweg noch leisten können?[12]

Die Meinung von Kühnert, BMW zu kollektivieren, mag auch naiv sein. Kühnert hat vielleicht auch eine zu eingeschränkte Sicht auf die Wirtschaft – nur von einer anderen Perspektive aus betrachtend. Er meint, man könne die Herausforderungen mit einem Systemwechsel in den Griff bekommen, indem man kollektiviert. Doch so geht es meiner Meinung nach eben auch nicht – die Geschichte ist voll von Beispielen, dass ein Systemwechsel allein nicht die Lösung scheint, um die Herausforderungen erfolgsversprechend zu meistern – manche Probleme haben sich gelöst, aber an anderer Stelle haben sich im neuen System neue Probleme aufgebaut.

Wie es scheint, stehen wir mitten in einem sozialen Experiment, dass sich seit Menschheitsgedenken weiterzuentwickeln sucht. Über Jahrtausende hinweg versuchen wir Menschen das Leben auf Erden bestmöglich zu gestalten, das Miteinanderleben und Überleben so zu regeln, dass man irgendwie bestmöglich dabei durchkommt – als Familie, als Region, als Staat, als Kontinent, …. Ich bin mir gerade gar nicht mehr sicher, ob es überhaupt Sinn macht, die Wirtschaft im Prozess der Digitalisierung revolutionieren zu wollen, sondern an ganz anderer Stelle die Prozessarbeit angesetzt werden sollte – bei sich selbst als Mensch. Dann wird man sich oft jedoch Ängsten stellen müssen, Überlebensängsten, Versagensängsten, Ängsten von Mächtigeren überrollt zu werden – was real auch immer der Fall sein kann.

Digitalisierung als solche ist weder gut noch schlecht. Doch lässt man der Digitalisierung ihren Lauf, kommt es zu gewaltigen Akkumulationen von Macht, die zu Lasten von Einzelnen und letztlich zu Lasten des Gemeinwesens gehen – so die Meinung von Schirrmacher. Es geht um die Klärung ethischer Konflikte, um die Renovierung unseres Wertesystems im Angesicht neuer Bedingungen:

  • Ist es tatsächlich mit der Idee vom freien Individuum vereinbar, zukünftige Entscheidungen eines Menschen errechnen zu wollen?

  • Was hat es für Folgen, wenn man zu einer durchleuchteten Identität wird?

  • Wer wird davon profitieren?

  •  Wer wird dabei auf der Strecke bleiben?

  • Was hat das wiederum rückwirkend für Folgen?

 

RESÜMEE

Die ersten 20ig Jahre der digitalen Ära haben wir aus Sicht von Schirrmacher bereits verschlafen. Es ist seiner Meinung nach allerhöchster Zeit, das Thema Digitalisierung ernsthaft auf die Agenda der Zukunftsfähigkeit zu setzen.[13]

Schirrmacher warnte vor den Zusammenschlüssen, vor den Riesen. Die Zusammenarbeit von Technologieunternehmen, Telekommunikationsfirmen und Geheimdiensten funktioniert über die Köpfe von uns allen hinweg. Einige Unternehmen profitieren unglaublich davon, andere hingegen verlieren diesen Wettkampf. Doch mitzumachen, um in nächster Zeit zu den Gewinnern im digitalen Zeitalter zu zählen, ist ebenfalls zu kurz gedacht. Die Macht mag reizvoll sein, aber die Macht hält sich nicht ewig, schon gar nicht in Zeiten der Digitalisierung und globalen Vernetzung. Womit wir gleich beim nächsten Dilemma wären:

Einige Unternehmen versuchen sich den Erfolgsplatz zu sichern, indem sich diese zu Riesen zusammenschließen. Aber gleichzeitig sind diese damit nicht mehr agil, nicht mehr flexibel und wendig genug, um die weiteren Digitalisierungsanpassungen meistern und adäquat auf die mit der Vernetzung einhergehenden Herausforderungen antworten zu können. Man mag zwar als Riese eine Zeit lang die Macht haben zu manipulieren. Aber wie lange hält sich diese Macht der Manipulation, und was für Folgen hat ein manipulatives Verhalten – auf das Unternehmen selbst, auf andere Unternehmen, auf die Gesellschaft, auf das globale Gefüge, rückwirkend auf jeden einzelnen? Wir haben keine Vorstellung davon, in welcher Weise ein missbrauchtes System zurückschlagen wird.

  • Zum einen sind alle scheinbar gezwungen mitzumachen, um nicht im Digitalisierungsprozess durch den Rost zu fallen.

  • Aber vielleicht fallen gerade jene im digitalen Zeitalter durch den Rost, die mitmachen, weil sie meinen, sie müssten mit den Drahtziehern und Riesen mithalten.

Möglicherweise wäre es klüger ganz neue Lösungen anzudenken, die jedoch abseits von dem liegen, was wir für notwendig und überlebensrelevant halten. Doch dafür nehmen sich die wenigsten Zeit bzw. die nötige Courage. Die Angst im Digitalisierungsprozess den Anschluss zu verlieren, macht den Blick eng, macht uns manipulierbar und macht uns blind für spannende neue Lösungsansätze, die jedoch nur im WeQ zu finden sein werden.

Die Idee von Kühnert, BMW zu kollektivieren, auch wenn das JournalistInnen ihm mehr oder weniger in den Mund gelegt haben sollen, mag das komplexe Herausforderungskonglomerat an digitalen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen nicht lösen, aber zumindest anregen darüber nachzudenken, was wäre wenn …

Dieser Artikel mag mehr Fragen als Antworten aufwerfen, mehr verunsichern als Vertrauen aufbauen, unangenehm drücken. Damit möchte ich Sie jetzt nicht alleine lassen, sondern Ihnen zum Abschluss von diesem komplexen Artikel einen Tipp von Heiko Ernst, Psychologe, Journalist und Sachbuchautor weitergeben:

  • Kafka lesen

  • ForscherInnen gaben einer Gruppe von Personen vor der Lösung eines komplexen, existenziellen Problems die Kafka-Novelle „Ein Landarzt“ zu lesen. Diese verstörende Lektüre, ein Text voller rätselhafter Wendungen und schockierender Ereignisse, ließ die LeserInnen das umfassende Problem geduldiger, sorgfältiger und kreativer lösen als eine Vergleichsgruppe von NichtleserInnen.[14]

Ihr Günther Wagner

 

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Literaturquellen:

[1] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kevin-kuehnert-die-enteignung-der-konzerne-und-die-rolle-der-zeit-im-umstrittenen-interview-16170511.html. Am 2019-05-07 gelesen.
[2] https://alinbu.net/blog/die-agile-bewegung-ist-gescheitert/. Am 2019-02-25 gelesen.
[3] Harari, Yuval Noah: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Verlag C.H.Beck oHG, München: 2018.
[4] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[5] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[6] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/New_Economy. Am 2019-05-07 gelesen.
[8] Harari, Yuval Noah: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Verlag C.H.Beck oHG, München: 2018.
[9] Gran, Christoph: Warum wir eine postautistische Wirtschaftswissenschaft brauchen. In: Handelsblatt. Wissenschaft & Debatte. Nr. 201. 2009-10-19, S.9.
[10] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[11] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[12] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[13] Schirrmacher, Frank: Technologischer Totalitarismus. Eine Debatte. Suhrkamp Verlag Berlin. 2. Auflage: 2018.
[14] Ernst, Heiko: Wege aus der Ungeduldsfalle. In: Spektrum KOMPAKT 01.19. Stress & Resilienz. Wie wir dem täglichen Druck begegnen. Spektrum der Wissenschaft VerlagsgmbH. Heidelberg.