
NEW WORK – LOHNARBEIT IM MINIROCK
Der geistige Vater der New Work Idee, Frithjof Bergmann, ist verstorben. Auf unterschiedlichen Plattformen sind Nachrufe zu lesen, persönliche Erinnerungen, emotionale Gedanken …
Ich nehme den Tod von Bergmann als Anlass, ehrlich zu sein, wie er selbst es auch schon tat …
Was meine ich damit?
Gehen wir gemeinsam rund 2 Jahre zurück – in die Zeit vor Corona. Das allein mutet jetzt im Moment fast schon weltfremd an. Eine Zeit, wo man viel gereist ist, viel Zeit persönlich sitzend in Meetings verbrachte, nicht bloß den Kopf sah mit etwas Oberkörper, sondern den ganzen Menschen, … Eine Zeit, wo man in den analogen Meetings unter dem Tisch mit dem Smartphone daddelte, technische Spielereien ausprobierte, aber noch viel persönlich aussprach und diskutierte …
Also gehen wir zurück in das analoge Zeitalter, ins Jahr 2019. Treffen wir uns persönlich in einem Straßencafé, suchen einen gemütlichen Platz, setzen uns hin, amüsieren uns über ein junges Paar am Nachbartisch, die kaum miteinander reden, sondern in ihre Smartphones starren und geschickt ihre Daumen bewegen, um Nachrichten zu schreiben, um mit der Welt verbunden zu sein …
Wir verkneifen uns lächelnd ein Statement, beginnen dann über die Digitalisierungsprozesse im Unternehmen zu sprechen, wie man diese aufsetzen könnte, wie man die MitarbeiterInnen bestmöglich in die Umsetzung der Digitalisierung integrieren könnte, …
An diesem Punkt wird es jetzt spannend – von 2 Seiten her kommend:
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Einerseits, weil damals im Jahr 2019 im Straßencafé die einen jene, die mehr mit dem Smartphone, als mit ihrem analogen Gegenüber sprachen, doch etwas schief ansahen …
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Andererseits, weil man genau das, die digitale Welt als Bezugswelt, als Arbeits- und Lebenswelt immer mehr in den Fokus rückt, und genau das forciert, was man damals, wo man es analog im Straßencafé mit Kopfschütteln beobachtete, nun selbst propagiert.
Wir alle tun jetzt genau das, was man damals belächelte. Wir leben ein Leben mit Smartphone und Co. – wir sind mitten in einem globalen Arbeits- und Lebenschange, hin zu einem digitalen Work- and Lifestyle.
NEW WORK – DER PROPAGIERTE NEUE WORK- UND LIFESTYLE
Durch Corona hat sich dieser Change, hin zu einem digital geprägten Arbeits- und Freizeitleben, in einer unglaublichen Schnelligkeit durchgesetzt. Kaum jemand hat mögliche riskante Felder, ev. Sackgassen in den Prozessoptimierungen und Prozessanpassungen, in den gesellschaftlichen, wie auch wirtschaftlichen Folgen umfassend genug bedenken können, um mögliche unangenehme Nebenwirkungen vorzubeugen.
Nun man kann sagen, dass gehört zu einem agilen Arbeitsweg dazu, aus Fehlern just in time zu lernen, learning by doing zu hypen, eine positive Fehlerkultur endlich wirklich zur Umsetzung zu bringen. Doch eine so ausgerichtete agile Arbeitsweise, und damit verbundene Fehlerkultur, heißt nicht, dass man mögliche Risiken gar nicht mehr vorweg in Diskussionen und Auseinandersetzungen beachten muss. Und genau das ist aktuell der wirklich große Haken an der Sache.
Digitalisierung, ein just in time Abenteuer, bündelt alles an Aufmerksamkeit jetzt in diesem Moment, ohne sich große Gedanken machen zu müssen über das was war und das, was sein könnte. Und genau damit übersehen wir die im Hintergrund, im Schatten wirkenden Faktoren, die aber unser Leben und Arbeiten weit mehr bestimmen als uns bewusst ist. Wir übersehen die hoch komplexen ineinander verschränkten Wirkungsweisen, und wir unterschätzen die Sensibilität solcher hochkomplexen Systeme. Bergmann hat es jedoch gesehen.
Bergmann hat die hoch komplexen Verflechtungen wahrgenommen. Und genau deshalb hat er New Work als Idee geboren. Er warnte eindringlich davor, dass wir die Digitalisierung und die Folgen davon nicht im Griff haben. New Work, wie er es verstand und aufzubauen suchte, könnte jedoch die Folgen der Digitalisierung in Chancen transformieren. Aber das was aus New Work geworden ist, verfehlt genau die relevanten Punkte von Bergmann, verflacht, verwischt, verdreht New Work, und könnte damit sogar die Problemfelder verstärken, anstatt diese zu lösen.
In der Corona-Krise schien es, dass wir mit der Digitalisierung heil aus dieser Krise herauskommen. Das mag so unter einem ganz bestimmten Aspekt stimmen, aber das war erst der Anfang eines jetzt so richtig in Fahrt gekommenen Digitalisierungsprozesses. Im Moment fühlen sich viele berauscht von der Kraft und den Möglichkeiten einer digitalen Arbeits- und Lebenswelt. Aber dem Rausch wird bald eine gewisse Ernüchterung folgen. Bei manchen zeigt es sich sogar schon – was niemand anderer als Microsoft selbst zugeben muss. Wer ehrlich ist, muss sich zumindest heimlich eingestehen, dass so gut wie immer nach einem Rausch, eine Ernüchterung folgt. Euphorie ist schön, aber verklärt und verkennt leider zu oft die Realität und vor allem die Folgen einer berauschten Aktion.
So gerne ich heute positive Gedanken zu Bergmann und seinen Visionen teilen möchte, so sehr sehe ich viel mehr das Scheitern der Idee – was aber bereits zu Lebzeiten von Bergmann durch die Verdrehung seiner Idee zu New Work festzustellen war – was mir persönlich schon damals weh tat.
Dabei stehen wir gerade jetzt in der Corona-Krise an einem Punkt, wo die Ideen von Bergmann, die damit verbundenen New Work Gedanken, agiles Arbeiten sogar noch an Bedeutung gewinnen könnten. Wir stecken in einer Krise, die nicht nur gesundheitlich in Bezug auf Corona zu deuten ist, sondern viel weiter reicht, einen Krisenherd nach dem anderen in den Brennpunkt rückt, Klimakrise, Demografiekrise, Korruptionen, Skandale, Raubbau, Ressourcenengpässe, Überbevölkerung, Migrationskrise, und und und …
Das Ursprungsmodell von New Work könnte uns in der Lösung der hochkomplexen global und regional ineinander verschränkten umwelttechnischen, wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Herausforderungen hilfreich zur Hand gehen.
Das Grundgerüst New Work hat die große Krise in der Automobilindustrie in der US-Stadt Flint in den 70iger Jahren gemeistert, indem Bergmann das System Arbeit ganz neu dachte, um die vielfältigen komplexen Brüche durch die Krise erfolgsversprechend zu kitten. Er hat die Menschen über alle Ebenen hinweg dazu aufgefordert, selbstverantwortlicher zu agieren, ihre Zeit zu nutzen, sowohl für die Arbeit als auch für die gemeinnützige Sache. Diese Art Arbeit zu praktizieren, Arbeit zu verstehen hat nicht nur agiler gemacht, sondern obendrein noch das Verantwortungsbewusstsein für eine größere Gruppe gestärkt, die Kreativität und Innovationskraft beflügelt.
Es war jedoch zu schön, um wahr zu sein …
AFTER THE END AND BEFOR THE BEGINNING
New Work, der Traum eine globale, miteinander agierende digitalen Weltwirtschaft aufzubauen, die sich gegenseitig sinnvoll und innovativ antreibt und motiviert, gleichzeitig dadurch auch die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern sucht, erscheint mir persönlich in sehr große Ferne gerückt.
Vor dem digitalen Boost, sprich vor Corona, träumten viele von den ungeahnten Möglichkeiten von New Work, von der digitalen Revolution, von der digitalen Arbeitsbefreiung, von einem Fortschritt, der auf alles positiv einwirkt, … Meine nüchterne Erkenntnis heute, zwei Tage nachdem Bergmann von uns ging: Ein schöner Traum, der schneller als gedacht meiner Meinung nach gescheitert ist.
In unzähligen persönlichen Telefonaten werde ich mehr denn je mit Frust über die aktuelle Situation konfrontiert. Der propagierte digitale Hype, New Work, agiles Arbeiten von daheim, vernetzt, offen, fluide, kreativ im Austausch mit der Welt sein, scheint für manche und vielleicht sogar für mehr als nur manche, von einem erfolgsversprechenden Traum zu einem mühsamen, an Motivation, Kraft und Kreativität nachlassenden Alltag geworden zu sein.
Ich nehme den Tod von Bergmann als Anlass, ehrlich zu sein, wie er selbst es auch schon tat – indem er die Auswüchse zu New Work öffentlich als Lohnarbeit im Minirock kritisierte, die Banalisierungen und Verflachungen als unwürdig postulierte. Vieles, was heute unter New Work, unter dem digitalen neuen freien Arbeitsleben propagiert wird, hat nichts mehr mit New Work zu tun. New Work im Sinne von Bergmann steht, wenn man ehrlich ist, im Spannungsverhältnis zur Wirtschaft [1] – und damit wurde der Traum von Bergmann bereits im Keim erstickt.
Manche mögen mir jetzt an dem Punkt widersprechen. Doch blicken wir ehrlich hin …
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Welche Werte und Prämissen von Bergmann nahmen tatsächlich in einer tiefgreifenden Weise in Unternehmen Einzug – dahingehend, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, sich fair und verantwortungsbewusst, umsichtig um das Unternehmen, die MitarbeiterInnen wie auch die Umwelt kümmert?!
Wenn wir ehrlich sind, stehen wir meilenweit davon entfernt – ohne das jetzt anklagen zu wollen. Vielmehr möchte ich an der Stelle die Chance nutzen, Ehrlichkeit zuzulassen, Zweifel, Ärgernis, Verängstigungen, Müdigkeit, (Ohn)macht, … freien Lauf zu lassen.
Dazu greife ich die Idee einer Videoinstallation auf: After the end and befor the beginning, eine fiktive Fortsetzung sowohl des Vorhers als auch des Nachhers während einer Autofahrt – ein schönes Gedankenspiel über die Träume und Ziele im Leben. Und genau das, Ziele, Träume, Visionen verbindet alle Menschen. Jeder Mensch möchte sein Leben zufriedenstellend gestalten. Dahingehend haben wir alle Ziele, Bedürfnisse, die wir befriedigen wollen. Für diese Ziele sind wir bereit etwas einzusetzen, etwas durchzuboxen, etwas fallen zu lassen, etwas sein zulassen, etwas zu ignorieren, … – dahingehend ist und war Bergmann ein Mann wie Du und ich, mit Bedürfnissen, mit Träumen, mit Zielen, mit großen Visionen.
Manche Visionen erreichen Weltruhm, prägen ganze Gesellschaften, politische und wirtschaftliche Systeme, andere erscheinen unbedeutend, wahnwitzig, undurchführbar oder vielleicht gefährlich, weil sie die Vormachtstellung anderer Ziele und Ideen streitig machen, …
Und jetzt frage ich Dich ganz konkret zum Abschluss von diesem Artikel, einem Nachruf zu Frithjof Bergmann:
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Wo siehst Du New Work heute in der Wirtschaft als Ziel, als Vision platziert?
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War und ist New Work vielleicht nur ein naiver Traum humanistisch geprägter Menschen gewesen?
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Ist New Work vielleicht sogar ein „wirtschaftsfeindlicher“ Traum?
Wagen wir es jetzt in Gedanken an Bergmann, New Work ehrlich zu begegnen, New Work vielleicht sogar neu zu träumen …
Danke Dir für Deine Offenheit und Ehrlichkeit!
Günther
P.S: In Verbindung mit dem Schreiben von diesem Artikel, dem Nachruf an Bergmann und seine tiefschichtigen weitreichenden Gedanken zu New Work, kann ich nicht umhin sagen zu müssen, dass wir aktuell noch viel tiefer in der Krise stecken als wir es wahrhaben wollen – in einer Krise, die ausnahmslos jeden einzelnen betrifft komplex verwoben mit der gesamten Welt …
Wir leben auf einem Planeten mit endlich Ressourcen. Wir plündern den Planeten, wir zerstören den Planeten, wir glauben aber, das alles bestmöglich zu managen, u.a. mit der Digitalisierung – was aber weitere Folgen mit sich bringt, die unglaublich komplex sind, und erneut Probleme schaffen …
Aber wir machen weiter, teilen unsere Ziele, unsere Träume, aktuell gehypt im Netz, bündeln digital bestimmte Ziele, … Manche Ideen breiten sich im großen Stil weltweit aus, andere verlieren sich in den unendlichen Weiten im Netz, …
Welche Ziele, welche Träume gut oder erfolgsversprechend sind, werden die nächsten Generationen zu beantworten wissen, in Folge neue Ziele, andere Ziele verfolgen, neue Träume haben, …
Informationsquellen:
[1] https://www-capital-de.cdn.ampproject.org/c/s/www.capital.de/karriere/frithjof-bergmann-vorkaempfer-fuer-echtes-new-work/amp. Am 2021-05-26 gelesen.
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