
VOM ZAHMEN TIGER UND DEM GEFÄHRLICHEN SCHAF – EIN PERSPEKTIVENWECHSEL
Mein letzter Artikel, Agile Prinzipien sind zum Scheitern verurteilt, hat aufgewühlt.
In dem Kommentar von Alfred Rothmüller, IT-Anwendungsanalyst, heißt es: Der Artikel trifft den Nerv. Das Thema Agilität ist weit vielschichtiger, als es uns zunächst Glauben gemacht wird. Bevor ich auf diese Meinung eingehe, möchte ich mich bei ihm und bei den vielen anderen bedanken, die ihre Meinung und Gedanken zu diesem Artikel offen und ehrlich geteilt haben.
Rothmüller trifft in seinem Kommentar jedoch noch einen weiteren Nerv – nämlich den Gedanken der Revolution. Man spricht bei der Digitalisierung immer wieder von der Revolution, ohne scheinbar zu wissen, was Revolution wirklich bedeutet:
In den Augen von Rothmüller ist Agilität eine Revolution, die über die Unternehmen schwappt. Warum Revolution? Weil die Wirkungsweisen ziemlich ähnlich sind. Das wird jedoch erst dann klar, wenn man sich eingehender mit Revolutionen auseinandersetzt. Revolution ist ein grundlegender struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme, die Einführung eines neuen Systems, und/oder ein Austausch der Machthaber. In der Soziologie spricht man von einem radikalen sozialen Wandel der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.[1]
Wenn man es nur in Ansätzen gedanklich zulässt, die Digitalisierung und manche darin propagierten neuen Arbeitsweisen, wie die Agilität, als Revolution anzusehen, dann wäre es vielleicht ganz klug, sich betroffen zu fühlen – bereit zu sein, Veränderungen im größeren Sinn (persönlich emotional, rational, arbeitstechnisch, Prestige bezogen, finanziell, …) zumindest einmal gedanklich über den Tellerrand hinaus durchzuspielen und auch zu diskutieren.
Genau das möchte u.a. Winfried Felser auf der #nextchampions und plant dazu Ende März eine spannende Expertenrunde mit Reiner Straub, Christoph Pause, Stephan Fischer, Andre Haeusling, und Roland Hehn.
Niemandem kann abgestritten werden, dass Veränderungen gewünscht sind, man Veränderungen zustimmt. Aber man tut sich mit Veränderungen schwer, sobald man selbst davon nicht nur marginal, sondern ziemlich direkt betroffen sein könnte. Dann löst das neben Zustimmung meist Unmut aus. Mein letzter Artikel hatte in Bezug auf die persönliche Betroffenheit scheinbar betroffen gemacht. Das braucht jetzt Zeit zum Verdauen. Deshalb möchte ich diese Woche kein neues Thema anreißen, sondern bei den Herausforderungen von Veränderungen bleiben.
WISSEN SIE, WAS EIN ZAHMER TIGER UND EIN GEFÄHRLICHES SCHAF IST?
Auf einer grünen Wiese am Rande einer Weide krabbeln zwei Käfer. Sie erklimmen die Spitze der Gräser und sehen sich um. Der jüngere fragt den älteren Käfer: „Was liegt denn da für ein Tier?“ Der ältere erklärt ihm: „Das ist ein Tiger. Weißt du, was ein Tiger ist? Er ist das sanftmütigste aller Tiere. Nie hat er uns etwas Böses getan.“ Der junge Käfer nickt.
Da kommt ein Schaf auf die Wiese. Augenblicklich ist der Tiger wie verwandelt. Er duckt sich im Gras und beobachtet das Schaf genau. „Oh, schau nur“, sagt der ältere Käfer, „da kommt ein Schaf. Weißt du, was ein Schaf ist? Es ist eine reißende Bestie. Es frisst uns mitsamt dem Gras, das uns Unterschlupf bietet. Aber der Tiger ist gerecht. Siehst du, er bereitet sich schon darauf vor, uns zu rächen.“ [2]
Diese kleine Fabel des polnischen Historikers und Schriftstellers Jan Graf Potocki möchte darauf aufmerksam machen, dass Urteile stark von der eigenen Perspektive abhängen. Oft bewerten wir das Verhalten der anderen danach, inwieweit es den eigenen Interessen dient.[3] Das mag zwar menschlich gesehen äußerst verständlich und nachvollziehbar sein, aber gleichzeitig erliegen wir einer Art Illusion, einer Täuschung und untergraben damit auch manche anstehenden Veränderungen.
Illusionsglauben und verzerrte Wahrheiten offen anzusprechen, erregt jedoch die Gemüter in ähnlicher Weise wie meine Aussage: Agile Prinzipien sind zum Scheitern verurteilt. In meinem Kurzbeitrag über Wahrheit und Illusion konnte ich wie mit meinem letzten Artikel deutlich Unmut, aber auch sehr spannende Diskussionen und aufklärende Reflexionen auslösen.
Selbstverständlich geht man als Wirtschaftsmensch davon aus, dass das, was man im Fach Wirtschaft lernt, richtig ist. Das dies umfassend und mit der notwenigen Perspektivenvielfalt die Herausforderungen erklärt, und dementsprechend weitreichende Lösungsstrategien zu generieren vermag. Man vertraut dem Wissen der wirtschaftswissenschaftlichen Zunft. Philosophische bzw. kognitive Abhandlungen über möglicherweise auftretende Wissensillusionen und verzerrte Wahrheiten haben hierbei keinen Platz.
Die Forschung zeigt jedoch deutlich, dass man häufig einer Wissensillusion bzw. Wissensverzerrungen erliegt. Der heikle Punkt daran ist jedoch weniger die Unwissenheit der Menschen, sondern viel mehr jener, dass die Menschen nicht wissen, dass sie unwissend sind bzw. ihr Wissen überschätzen und/oder verzerren.[4]
Nach Steven Sloman, Professor für Kognitionswissenschaften, Linguistik und Psychologie an der Brown University in Providence, Rhode Island, ist man überzeugt, Bescheid zu wissen – doch an der Stelle erliegt man einer Täuschung. Das mag u.a. auch im Prozess der Digitalisierung zu Wissensverzerrungen, Verharmlosungen und zu unzureichend konzipierten Veränderungsprozessen, beispielsweise was die Agilität betrifft, führen. Es gibt meinem Verständnis nach 2 Ebenen der Wissensillusion bzw. der geglaubten Wahrheiten, die jedoch eng miteinander verknüpft wirken und sich gegenseitig beeinflussen:
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Die individuelle Wissensillusion bzw. die persönliche Annahme der Wahrheit
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Die Gruppenillusionen bzw. Gruppenwahrheiten
Man wählt ein Umfeld, und schließt sich dem darin existierenden Konsens an.[5] Die Folge daraus: Man sieht deutlich weniger über den Tellerrand hinaus – und wenn, dann tut man sich meist sehr schwer, fachfernem Wissen anderer Gruppierungen ebenfalls Wahrheitsgehalt zu schenken, wenn diese der eigenen Meinung widerspricht. Das ist jedoch keine absichtsvolle Reaktion, sondern ein meist unbewusst ablaufender Gegenschlag.
Man setzt viel daran, die eigene Urteilsfähigkeit und das eigene Wissen nicht infrage zu stellen, und geglaubte Überzeugungen zu stabilisieren.[6] Diese Haltung führt dazu, dass Wissen zu selten über den Tellerrand hinaus hinterfragt und weitreichend reflektiert wird. Solche Verzerrungen bzw. Illusionen sind äußerst zäh, widerstandsfähig und veränderungsresilient.
Wir meinen zwar, die Wissenslücken und Wissensverzerrungen im eigenen Umfeld und bei sich selbst zu durchschauen – ebenfalls eine Illusion. Warum das so ist, hat zutiefst menschliche Triebkräfte, nämlich, Anerkennungs- und Sicherheitsstreben.
Viele Menschen bleiben in Bezug auf ihr Wissen oft deshalb kompromisslos, weil die Überzeugungen mit der Zugehörigkeit an eine bestimmte Position mit bestimmten Privilegien bzw. an eine bestimmte Gemeinschaft verknüpft ist. Eine solche Schutzhaltung untergräbt jedoch das Hinterfragen, und damit die Möglichkeit auf systematische Schwierigkeiten rechtzeitig zu reagieren. Das mag zwar äußerst menschlich und verständlich sein, aber bringt die Menschen in Veränderungssituationen immer wieder in Notlagen – wovon es genug Beispiele im Laufe der menschlichen Geschichte gab und noch immer gibt.
RESÜMEE
Die Auseinandersetzung mit Wissen, Wahrheit, Wissensverzerrung bzw. Illusionen führt zu einem selbst zurück – zum eigenen Ego und dem Ego-Tunnel. Dort braucht es Zugeständnisse. An dem Punkt starten die Herausforderungen in Veränderungsprozessen.
Insbesondere für jene, die es nicht gewohnt sind, sich persönlich kritisch zu betrachten, mag dieser persönliche Ansatz Veränderungen zu managen, vermutlich auf Missgunst stoßen. In manchen Umwelten mag es en vogue sein, kritische Selbsterkenntnis zu üben. Aber die Wirtschaft zählt, so meine ich, nur rudimentär dazu. Doch genau diese zu einseitige Sicht der Dinge, könnte der Wirtschaft in der Digitalisierung zum Verhängnis werden.
Was folgt nun konkret aus den Erkenntnissen, dass wir aus unterschiedlichen Gründen in unterschiedlichen Graden Wissensillusionen und verzerrten Wahrheiten folgen, uns sogar unbewusst täuschen lassen wollen, weil es so scheinbar leichter ist sich Herausforderungen zu stellen – es folgt Unsicherheit, Unmut, Widerstand, …
Aufbau- statt Konfliktstrategie
Thomas Wilhelm, Didaktikprofessor, setzt an dieser Stelle der Aufklärung auf eine Aufbau- statt auf eine Konfliktstrategie. Er versucht beispielsweise richtige bzw. andere Vorstellungen zu vermitteln, ohne die Falschen bzw. Eingeschränkten zu aktivieren, und damit eventuell sogar noch zu verstärken.[7]
Es geht Wilhelm darum, Wissensillusionen und Wissensverzerrungen nicht zu verurteilen, sondern die Bedeutung dieser klar herauszustreichen, dass man beispielsweise mit fixierten Meinungen im Alltag relativ weit kommen kann, aber ebenso aufzeigt, dass man genau damit an Grenzen stößt.[8]
Sloman setzt auf einen ähnlichen Lösungsansatz: Er sieht nur eine Chance, Illusionen, Verzerrungen, Täuschungen entgegenzuwirken, indem die Kulturen insgesamt verändert werden, indem man die Gemeinschaften als Ganzes skeptischer macht. Das erreicht man u.a., …[9]
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indem man einfach ein Gespräch beginnt.
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indem man darüber aufklärt, wie wichtig es ist, fachübergreifend über Ziele, Konsequenzen und Ergebnisse zu reden.
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indem man darauf achtet, dass ExpertInnen echte ExpertInnen sind und nicht nur Menschen, die die Macht haben, ihre Meinungen kundzutun.
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indem man versucht, die Art und Weise zu ändern, wie MeinungsführerInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen kommunizieren – worunter ich als Influencer irgendwie auch zähle.
Als Influencer muss ich mir bewusst sein, dass ich Wissen verbreite – unter Umständen mit meinen Annahmen und meinen Wissensansätzen nicht immer richtig liege, und darauf achten muss, andere mit meinem Wissen nicht zu manipulieren. Deshalb ist mir der Diskurs so wichtig:
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Im Diskurs können Irrtümer ans Licht kommen. Aus diesem Grund möchte ich meine Wissensansätze vielmehr als Diskussionsplattform und weniger als Wahrheiten ansehen, um darauf aufbauend Ihr und mein Wissen in neue Erkenntnisebenen führen zu können – sprich den WeQ nutzen.
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Was ich nie aus den Augen lassen möchte, das ist der Mensch und die unfassbar komplexen Handlungsmotive des Menschen. Und gerade deshalb ist es meiner Meinung nach so schwer Veränderungen zu bewegen, Fakten, Wahrheiten, Verzerrungen, Illusionen auseinanderzuhalten, sich von den mit Verzerrungen, Täuschungen und Illusionen verbundenen Vorteilen nicht verführen zu lassen.
Deshalb versuche ich immer wieder aufs Neue mit meinen Beiträgen und Artikeln, wie auch in meiner Gruppe zum Leadership Café, Diskurse anzuregen, über den Tellerrand hinaus zu blicken, mit der Gefahr, hie und da skeptisch angesehen zu werden, wie beispielsweise mit meinem letzten Artikel Agile Prinzipien sind zum Scheitern verurteilt.
Sloman sagt: Der Trick besteht darin, den sozialen Diskurs so zu ändern, dass ExpertInnen aus unterschiedlichen Bereichen mehr konsultiert werden, man mehr von diesen hört, wie sie über mögliche Konsequenzen in unterschiedlichen Umwelten reden.[10] Man wird nicht darum herumkommen, sich selbst kritisch zu betrachten, die eigenen Motive, Denkansätze und Handlungsstrategien ehrlich zu beleuchten, wenn man große Veränderungen wie die Digitalisierung, einige sprechen von Revolution, verantwortungsbewusst managen möchte.
Im Artikel, Leaders Focus Too Much on Changing Policies, and Not Enough on Changing Minds, wird geraten, sich selbst zu fragen:[11]
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Was sehe ich nicht?
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Wie wird meine Perspektive von meinen Ängsten beeinflusst?
Die meisten verweigern nicht die neuen Gedanken, sondern die mit den neuen Gedanken verbundenen Folgen – genau das verhindert jedoch neue Einsichten und Veränderungen – genau das braucht viel Verständnis, Menschenkenntnis und Reflexion. Die Verhinderer der Veränderungen sitzen zwischen den Ohren – es sind Konditionierungen, Ängste, Neid, Befürchtungen und vieles mehr.[12] Genau an diesem Punkt braucht es das, womit man sich gerne rühmt, aber was äußerst leicht in sich zusammenfällt – Mut:
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Mut, sich mit sich selbst tiefergehend rational und emotional auseinanderzusetzen – den eigenen Verzerrungen, Täuschungen und Illusionen zu stellen.
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Mut, die Ausreden, weshalb es nur so geht und nicht anders, loszulassen und ehrlich einzugestehen, dass man Angst hat.
Die Veränderungsbereitschaft ist sicherlich gegeben. Es mangelt jedoch meist am Mut oder andersherum gesehen:
Man kann zwar versuchen, jeden Veränderungsprozess so nüchtern, so fachspezifisch, technisch und objektiv wie möglich zu gestalten, doch Veränderungen berühren die Menschen – jeden Menschen. Das kann man nicht wegrationalisieren, auch wenn genau das gerne gemacht wird. Man versucht den unangenehmen Aspekten jeder Veränderung auszuweichen, in der Hoffnung, dass sich die mit den Veränderungen verbundenen Unannehmlichkeiten irgendwann von allein in Luft auflösen – eine scheinbar hilfreiche Illusion.
Ihr Günther Wagner
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Literaturquellen:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Revolution. Am 2019-03-05 gelesen.
[2] Nöllke, Matthias: Anekdoten, Geschichten, Metaphern für Führungskräfte. Haufe Verlag GmbH & Co.KG. München: 2002.
[3] Nöllke, Matthias: Anekdoten, Geschichten, Metaphern für Führungskräfte. Haufe Verlag GmbH & Co.KG. München: 2002.
[4] https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/38993-die-leute-wissen-nicht-wie-unwissend-sie-sind.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[5] https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/38993-die-leute-wissen-nicht-wie-unwissend-sie-sind.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[6] https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/39375-mythen-der-kuechenpsychologie.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[7] https://www.psychologie-heute.de/leben/39043-wir-naiven-welterklaerer.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[8] https://www.psychologie-heute.de/leben/39043-wir-naiven-welterklaerer.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[9] https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/38993-die-leute-wissen-nicht-wie-unwissend-sie-sind.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[10] https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/38993-die-leute-wissen-nicht-wie-unwissend-sie-sind.html. Am 2018-10-02 gelesen.
[11] https://www.bcg.com/de-at/capabilities/change-management/insights.aspx. Am 2018-07-17 gelesen.
[12] www.psychologie-heute.de/das-heft/aktuelle-ausgabe/detailansicht/news/falsche_gedanken_ueber_sich_selbst_stehen_einem_oft_im_weg/?tx_ttnews%5BsViewPointer%5D=1. Am 2018-01-09 gelesen.